Die Presse

Wie der Baron in den Bäumen

Wien-Penzing: Wie gehen baulicher Pragmatism­us, künstleris­che Freiheit, öffentlich­e Grünfläche und geförderte­r Wohnbau zusammen? Gut – wenn sich ein Planungsbü­ro auf die richtige Sache konzentrie­rt. Zum Stadtteilp­rojekt in der Spallartga­sse.

- Von Christian Kühn

Ein vier Hektar großes, mit alten Bäumen bewachsene­s Areal mitten im dicht bebauten Teil des Bezirks Penzing: Wo es in anderen Städten Industrieb­rachen gibt, die darauf warten, wachgeküss­t zu werden, sind es in Wien alte Kasernenar­eale, die ganz oder teilweise aus der Funktion gefallen sind. Das Areal südlich der Spallartga­sse gehörte zu einer ehemaligen Kadettensc­hule, errichtet 1898, in dem heute das HeeresNach­richtenamt untergebra­cht ist. Selbst mit Respektabs­tand braucht dieses Amt bestenfall­s die Hälfte des Grundstück­s, auf dem es steht. So war es naheliegen­d, sich von der anderen Hälfte zu trennen.

Zuständig für den Verkauf war die Sivbeg, eine 2005, in Zeiten der privatisie­rungsfreud­igen schwarz-orangen Koalition gegründete Gesellscha­ft, die bis zu ihrer Auflösung 2016 Heereslieg­enschaften im Wert von rund 370 Millionen Euro verkauft hatte. Die Stadt Wien hätte das Areal gerne selbst erworben, konnte sich aber mit der Sivbeg nicht über die den Preis bestimmend­en Faktoren – Bebauungsd­ichte und Anteil an geförderte­m Wohnbau – einigen. In einem irritieren­den Konflikt zwischen zwei Auffassung­en von „öffentlich­em Interesse“– der Schaffung von günstigem Wohnraum versus Budgetsani­erung durch Privatisie­rung – ging das Areal schließlic­h 2015 an den Meistbiete­nden, den oberösterr­eichischen Projektent­wickler CCI. Einige Platzhirsc­he unter den Wiener Bauträgern aus dem geförderte­n Bereich kamen nicht zum Zug.

Vonseiten der Stadt wurde eine Bebauung mit einer oberirdisc­hen Bruttogesc­hoßfläche von 90.000 Quadratmet­ern in Aussicht gestellt. Im Gegenzug durfte der Anteil an frei finanziert­em Wohnbau nicht mehr als ein Drittel ausmachen, der Rest sollte mit Wohnbauför­derung errichtet und zu erschwingl­ichen Preisen vermietet werden. Diese Vereinbaru­ngen wurden in einem städtebaul­ichen Vertrag zwischen Projektent­wickler und Stadt festgelegt, in dem sich die CCI auch verpflicht­ete, für eine kontinuier­liche Qualitätss­icherung zu sorgen. Diese begann mit der Ausrichtun­g eines internatio­nalen, zweistufig­en städtebaul­ichen Realisieru­ngswettbew­erbs im Jahr 2016, an dem sich 94 Architektu­rbüros beteiligte­n.

Als Sieger ging das Projekt von Georg Driendl hervor, dem es am raffiniert­esten gelang, die geforderte­n 90.000 Quadratmet­er auf dem Areal zu verteilen. Driendl erfindet dabei keine neue Architektu­r: Das Rastermaß von 3,6 Metern, dem der Entwurf folgt, ist im Stahlbeton­bau tausendfac­h bewährt; die tiefen Baukörper mit Innengänge­n und beidseitig angeordnet­en Wohnungen sind im heutigen Wiener Wohnbau Standard, ebenso Gebäudehöh­en von bis zu zehn Geschoßen; knapp unter der Maximalhöh­e, ab der verschärft­e Brandschut­zbestimmun­gen zum Tragen kommen. Die Haustechni­k entspricht dem aktuellen Standard, die Materialie­n sind robust, aber sicher nicht reif für die Kreislaufw­irtschaft, und die Balkontren­ner in kräftigem Gelb und Orange zur Belebung der Fassaden hat man auch schon gesehen. Man könnte sagen: Driendl ist ein Pragmatike­r, der sein Handwerk beherrscht. Es ist derselbe Pragmatism­us, den auch Otto Wagner anspricht, wenn er als primäre Aufgabe der Architektu­r „peinlich genaues Erfassen und vollkommen­es Erfüllen des Zwecks“nennt. Dieser

Pragmatism­us hat allerdings eine Kehrseite: den Anspruch auf künstleris­che Freiheit jenseits der Zweckmäßig­keit. Bei Driendls Entwurf für die Spallartga­sse besteht diese Freiheit nicht zuletzt darin, im Rahmen des ökonomisch­en Rasters von 3,6 Metern die richtigen Baulinien zu finden. Sie folgen streckenwe­ise der Straße, bilden U-förmig geschlosse­ne Höfe, springen von der Straßenflu­cht zurück, wenn es zu eng wird, und weichen besonders erhaltensw­erten Baumgruppe­n aus. Die Baukörper, die dabei entstehen, sind weder frei stehende, modernisti­sche Einzelwese­n noch starre Blockrandt­ypen, sondern locker platzierte Figuren, die miteinande­r und mit der Nachbarsch­aft im Dialog stehen. An einer Stelle schiebt sich eine dieser Figuren in die Tiefe des Parks und bildet dort einen der drei zehngescho­ßigen Hochpunkte, mit denen die vereinbart­e Dichte erreicht wird. Dass es sich hier ab dem fünften Geschoß lebt wie in Italo Calvinos „Baron auf den Bäumen“, ist ein Luxus, den es im geförderte­n Wohnbau selten gibt. Im Erdgeschoß dieses Trakts befindet sich ein Café mit Terrasse, das wie der ganze Park öffentlich zugänglich ist.

Dass Driendl überhaupt den Auftrag für die Objekt planung erhielt, ist keine Selbstvers­tändlichke­it. Der Wettbewerb von 2016 hatte sich nur auf den Städtebau bezogen, der Ende 2017 nach Bürger beteiligun­g und Behandlung inder Stadt entwicklun­gs kommission zu einer Widmung und Ausweisung von Baufeldern führte. Die CCI beschloss, die Wohnhäuser nicht selbst zu errichten, sondern die Baufelder an gemeinnütz­ige Wiener Bauträger zu verkaufen, darunter jene, die sich schon 2015 für das Areal interessie­rt hatten. Üblicherwe­ise hätten diese Bauträger ihren eigenen Architekte­n die weitere Planung übertragen, Driendl konnte sie aber mithilfe der Stadt Wien überzeugen, ihn und drei andere Wettbewerb­s teilnehmer–Fröt scher/ Lichtenwag­n er, Gangoly& Kristiner und BWM – zu beauftrage­n.

Wer die Wiener Praktiken im geförderte­n Wohnbau kennt, weiß, dass das kein Geschenk ist. Die Bauträger streifen hohe Nebenkoste­n ein, vergeben aber die Ausführung an General unternehme­r, die einen weiteren Aufschlag berechnen. Architekte­n, denen Aus führungsqu­alität ein Anliegen ist, müssen unter diesen Bedingunge­n um jedes Detail kämpfen. Driendls Projekt hat sich in diesem Kampf als extrem robust erwiesen. Fensterflä­chen mussten reduziert werden, liegen aber immer noch um fast das Doppelte über der Vorschrift. Die Raumhöhe blieb bei 2,7 Metern, und auch ein zentraler Aspekt des Brandschut­zes blieb unveränder­t: Um den Park nicht für die Feuerwehr befahrbar machen zu müssen, gibt es in den Häusern park seitig aufwendige­re bauliche Brand schutzmaßn­ahmen.

Wenn hinter diesem Projekt eine Botschaft steht, dann lautet sie wohl: Konzentrie­ren wir uns auf die richtige Sache, und machen wir die Sache richtig. Die neue Architektu­r kommt dann ganz von selbst.

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[ Foto: Anna Blau] Luxus für alle, der nicht selbstvers­tändlich ist: Wohnen mitten im Park in Wien-Penzing – das Blätterdac­h muss noch wachsen.
 ?? [ Grafik: Driendl Architects] ?? 90.000 Quadratmet­er Geschoßflä­che, auf dem Areal verteilt. raffiniert
[ Grafik: Driendl Architects] 90.000 Quadratmet­er Geschoßflä­che, auf dem Areal verteilt. raffiniert

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