Der Damm muss gebaut sein, bevor die Flut kommt
Man will keine Gedanken mehr an das Coronavirus verschwenden. Das ist vielleicht verständlich, aber verhindert keine Wiederkehr des Schreckens.
Wir sind mit Corona fertig. Aber Corona ist noch nicht mit uns fertig. Es wird es vermutlich nie sein. Das Virus tut, was in seiner Natur liegt: Es mutiert, es verbreitet sich, dort, wo ihm keine Grenzen gesetzt werden. Mehr als zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie gibt es Fakten, denen man sich emotionslos stellen muss. Erstens, die Zero-Covid-Strategie hatte nur in der Theorie Bestand: Sie wäre nur mit einer weltweiten gleichzeitigen Kraftanstrengung umzusetzen gewesen. Zweitens, die Herdenimmunität hat sich als Mär erwiesen: Mehrfachinfektionen betreffen Geimpfte wie Genesene. Drittens: Die Impfung ist nur eine Säule von mehreren in der Prävention.
Nicht weit von hier tobt ein grausamer Krieg, der alle anderen Probleme verblassen lässt. Schon allein deshalb ist es vermessen, von Kampf oder gar Krieg gegen ein Virus zu schreiben, so wie auch die oft gebrauchte Phrase, den Krebs zu „besiegen“, völlig unangebracht ist. Betroffene wissen, welche zusätzliche Last es ist, Krankheitsverläufe in dieser Weise zu personalisieren. Dies ist auch bei Corona geschehen – jene, die bloß einen Schnupfen hatten, konnten die Infektion mit einem Schulterzucken abtun (und sich vielleicht auf die Schulter klopfen), während andere noch Monate später keine Treppen steigen können. Sie können nichts dafür. Und was ist mit den vielen Toten? Sie als eine Art natürliche Auslese hinzunehmen wäre eine Kapitulation des Humanismus.
Schon allein ihretwegen reicht es nicht, ein paar Szenarien für den Herbst zu skizzieren und zu suggerieren, dass dies schon Vorbereitung genug sei. Es müssen konkrete Schritte gesetzt werden, egal, welcher Verlauf auf uns zukommt. Denn ein Problem werden wir keinesfalls los, und das heißt Long Covid. Experten rechnen damit, dass rund zehn Prozent der Bevölkerung, wenn nicht mehr, von den Folgen der Erkrankung betroffen sein könnten. Die Bandbreite geht über Erschöpfung hinaus, Herz-Kreislauf-System und Organe können noch Monate nach der Infektion angegriffen werden, neurologische Ausfälle sind nicht selten. Long Covid belastet nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Wirtschaft. Es wird zu multiplen Beeinträchtigungen des Arbeitsmarkts
und der Gesundheitssysteme kommen. Gibt es dafür Pläne, außer dass man hofft, es werde schon nicht so schlimm werden? Es braucht Anlaufstellen für Kranke, Strategien für ihre Genesung. Wie lang wird es dauern, bis Versicherungen auf die neue Volkskrankheit reagieren? Wenn bei Abschluss neuer Prämien auch die Frage gestellt wird, ob eine Corona-Infektion durchgemacht wurde, um gewisse Therapien von einem Kostenersatz auszunehmen?
E s ist am besten, Covid-19 nicht zu bekommen. Und wenn man es einmal hatte, es nicht noch einmal zu bekommen. Und noch einmal. Wiederholte Ansteckung erhöht nicht die Immunität, sondern das Risiko für Langzeitfolgen. Es muss daher klar gesagt werden, dass die Impfung vor schweren Verläufen schützt, aber nicht vor einer Ansteckung. Die Bedeutung der Impfung zu schmälern scheint angesichts der Leistungen der Wissenschaft und der Häme von Impfkritikern schwierig. Aber sie ist nur wirksam, wenn es flankierende Maßnahmen gibt, und zwar permanent: Hygiene, Maske in prekären Bereichen (etwas Gesundheitseinrichtungen) und Luftfilter in Innenräumen.
Es gibt Gesetze gegen Umweltverschmutzung, Qualitätssiegel für Nahrungsmittel und Wasser, aber für die Luft in Innenräumen soll es keine Standards geben? Die technischen Möglichkeiten sind vorhanden, sie sind nicht teuer. Es gibt keinen Grund, warum Klassenzimmer, Büros, Gasthäuser über den Sommer nicht endlich entsprechend aufgerüstet werden. Bisher bekamen die Schulen nicht einmal Luftmessgeräte, die im Schnitt knapp zehn Euro kosten.
Der US-Epidemiologe Eric FeiglDing sagte im Gespräch mit der „Presse“: „Der Damm muss gebaut werden, bevor die Flut kommt. Es ist zu spät, das Fenster zu vernageln, wenn der Hurrikan im Anmarsch ist.“Wir sehen die Großwetterlage. Zu denken, dass es anders kommt, hat mehr mit Verdrängung als mit Hoffnung zu tun.