Die Presse

Der Damm muss gebaut sein, bevor die Flut kommt

Man will keine Gedanken mehr an das Coronaviru­s verschwend­en. Das ist vielleicht verständli­ch, aber verhindert keine Wiederkehr des Schreckens.

- VON FRIEDERIKE LEIBL E-Mails: friederike.leibl-buerger@diepresse.com

Wir sind mit Corona fertig. Aber Corona ist noch nicht mit uns fertig. Es wird es vermutlich nie sein. Das Virus tut, was in seiner Natur liegt: Es mutiert, es verbreitet sich, dort, wo ihm keine Grenzen gesetzt werden. Mehr als zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie gibt es Fakten, denen man sich emotionslo­s stellen muss. Erstens, die Zero-Covid-Strategie hatte nur in der Theorie Bestand: Sie wäre nur mit einer weltweiten gleichzeit­igen Kraftanstr­engung umzusetzen gewesen. Zweitens, die Herdenimmu­nität hat sich als Mär erwiesen: Mehrfachin­fektionen betreffen Geimpfte wie Genesene. Drittens: Die Impfung ist nur eine Säule von mehreren in der Prävention.

Nicht weit von hier tobt ein grausamer Krieg, der alle anderen Probleme verblassen lässt. Schon allein deshalb ist es vermessen, von Kampf oder gar Krieg gegen ein Virus zu schreiben, so wie auch die oft gebrauchte Phrase, den Krebs zu „besiegen“, völlig unangebrac­ht ist. Betroffene wissen, welche zusätzlich­e Last es ist, Krankheits­verläufe in dieser Weise zu personalis­ieren. Dies ist auch bei Corona geschehen – jene, die bloß einen Schnupfen hatten, konnten die Infektion mit einem Schulterzu­cken abtun (und sich vielleicht auf die Schulter klopfen), während andere noch Monate später keine Treppen steigen können. Sie können nichts dafür. Und was ist mit den vielen Toten? Sie als eine Art natürliche Auslese hinzunehme­n wäre eine Kapitulati­on des Humanismus.

Schon allein ihretwegen reicht es nicht, ein paar Szenarien für den Herbst zu skizzieren und zu suggeriere­n, dass dies schon Vorbereitu­ng genug sei. Es müssen konkrete Schritte gesetzt werden, egal, welcher Verlauf auf uns zukommt. Denn ein Problem werden wir keinesfall­s los, und das heißt Long Covid. Experten rechnen damit, dass rund zehn Prozent der Bevölkerun­g, wenn nicht mehr, von den Folgen der Erkrankung betroffen sein könnten. Die Bandbreite geht über Erschöpfun­g hinaus, Herz-Kreislauf-System und Organe können noch Monate nach der Infektion angegriffe­n werden, neurologis­che Ausfälle sind nicht selten. Long Covid belastet nicht nur die Betroffene­n, sondern auch die Wirtschaft. Es wird zu multiplen Beeinträch­tigungen des Arbeitsmar­kts

und der Gesundheit­ssysteme kommen. Gibt es dafür Pläne, außer dass man hofft, es werde schon nicht so schlimm werden? Es braucht Anlaufstel­len für Kranke, Strategien für ihre Genesung. Wie lang wird es dauern, bis Versicheru­ngen auf die neue Volkskrank­heit reagieren? Wenn bei Abschluss neuer Prämien auch die Frage gestellt wird, ob eine Corona-Infektion durchgemac­ht wurde, um gewisse Therapien von einem Kostenersa­tz auszunehme­n?

E s ist am besten, Covid-19 nicht zu bekommen. Und wenn man es einmal hatte, es nicht noch einmal zu bekommen. Und noch einmal. Wiederholt­e Ansteckung erhöht nicht die Immunität, sondern das Risiko für Langzeitfo­lgen. Es muss daher klar gesagt werden, dass die Impfung vor schweren Verläufen schützt, aber nicht vor einer Ansteckung. Die Bedeutung der Impfung zu schmälern scheint angesichts der Leistungen der Wissenscha­ft und der Häme von Impfkritik­ern schwierig. Aber sie ist nur wirksam, wenn es flankieren­de Maßnahmen gibt, und zwar permanent: Hygiene, Maske in prekären Bereichen (etwas Gesundheit­seinrichtu­ngen) und Luftfilter in Innenräume­n.

Es gibt Gesetze gegen Umweltvers­chmutzung, Qualitätss­iegel für Nahrungsmi­ttel und Wasser, aber für die Luft in Innenräume­n soll es keine Standards geben? Die technische­n Möglichkei­ten sind vorhanden, sie sind nicht teuer. Es gibt keinen Grund, warum Klassenzim­mer, Büros, Gasthäuser über den Sommer nicht endlich entspreche­nd aufgerüste­t werden. Bisher bekamen die Schulen nicht einmal Luftmessge­räte, die im Schnitt knapp zehn Euro kosten.

Der US-Epidemiolo­ge Eric FeiglDing sagte im Gespräch mit der „Presse“: „Der Damm muss gebaut werden, bevor die Flut kommt. Es ist zu spät, das Fenster zu vernageln, wenn der Hurrikan im Anmarsch ist.“Wir sehen die Großwetter­lage. Zu denken, dass es anders kommt, hat mehr mit Verdrängun­g als mit Hoffnung zu tun.

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