Wo Putin schon die Gaswaffe zückte
Bulgarien. Russlands Präsident Putin erhöht den Druck auf das EU-Armenhaus in Südosteuropa. Am Montag reiste Österreichs Außenminister Schallenberg in den Frontstaat des europäischen Energiekonflikts.
Sofia. Im Park Borissowa Gradina, im Herzen von Sofia, regiert der Frühling. Junge Hauptstädter rollen auf ihren Skateboards und Fahrrädern über Hindernisse, sie balancieren mit dem Fuß einen Stoffsack, oder sie nippen am Bier. Nicolai hat anderes zu tun. Er „beschützt“die Denkmalgruppe in seinem Rücken. So sagt er das. Eigentlich sitzt er nur da und zieht an einer selbstgedrehten Zigarette. Ein 41 Meter hoher Obelisk schraubt sich hinter ihm in den Himmel über Sofia. An seiner Spitze thront ein sowjetischer Soldat.
Auf einigen Skulpturen hier klebt noch ein bisschen Farbe. Die Statuen wurden beschmiert. Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wärmte die Stadtpolitik die alte Debatte auf, ob man dieses Denkmal nicht abreißen sollte. Nicolai protestiert: „Kommt nicht infrage. Das ist ein historischer Ort.“Aber es geht auch um die Gegenwart. Der 51-Jährige will, dass sich Bulgarien, ein NatoLand, mit Blick auf die Ukraine „neutral“verhält. Die beiden Bulgaren neben ihm, die auf ihre Tarnuniform die russische Trikolore genäht haben, sehen das gewiss genauso.
Der Ukraine-Krieg hat in dem armen Balkanstaat tiefe Risse offengelegt. Sie gehen durch die Regierung. Und durch die Bevölkerung. Unter den Alten gibt es mehr russlandfreundliche „Ostalgiker“als unter den Jungen. Das war schon vor dem 27. April so. Dann zückte Putin die Energiewaffe. Er drehte den Bulgaren und Polen den Gashahn zu. Ausgerechnet.
Die Bande zu Russland sind eng – wirtschaftlich, religiös auch historisch. Moskau hat Einfluss. Eine Erklärung führt ins Jahr 1878, als Russland die Bulgaren von der osmanischen Herrschaft befreit hat. Im Kalten Krieg wurde gewitzelt, der Warschauer-Pakt-Staat sei „16. Sowjetrepublik“. „Immer mit Europa, nie gegen Russland“, lautete das adaptierte Credo im 21. Jahrhundert. Sie sind proeuropäisch. Sie halten überraschend klar zur Ukraine. Das schon. Putins hohe Beliebtheitswerte stürzten ab. Aber Moskau hat hier noch immer mehr Anhänger als anderswo. Einer Yougov-Umfrage zufolge gibt eine relative Mehrheit der Nato die Schuld an der Lage in der Ukraine.
„Gaskeule inakzeptabel“
Am Montag reiste Alexander Schallenberg nach Sofia. Österreichs Außenminister will Bulgarien bewegen, seine Blockade gegen EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien aufzugeben. Der Besuch geriet auch zur Visite in einem Frontstaat im Energiekonflikt. „Russlands Erpressungsversuch mit der Gaskeule ist völlig inakzeptabel“, sagt Schallenberg beim Treffen mit Teodora Genchowska, seiner Amtskollegin. Er versicherte den „Freunden“in Bulgarien Österreichs Solidarität.
Kostantsa Rangelowa ist Energie-Expertin des Center for the Study of Democracy. Sie sitzt in der Rooftop Bar des Sense Hotels im Zentrum von Sofia. Im Fenster spiegeln sich die goldenen Zwiebeltürme der orthodoxen Kirchen. Im Hintergrund breitet sich das Witoschagebirge aus, zu dessen Füßen Sofia liegt. Die Gipfel sind noch weiß angezuckert. Aber in Sofia ist es schon warm. Die Heizsaison ist vorbei. Das ist die gute Nachricht. Bulgarien wird das Gas nicht morgen ausgehen, auch nicht übermorgen. Der Herbst macht ihr Sorgen. „Wir müssen unsere Gasspeicher füllen und Solidaritätsabkommen mit anderen Staaten abschließen. Sonst drohen mögliche Engpässe in der Industrie und horrende Gaspreise.“
Warum Bulgarien? Putin zielte aufs „schwächste Glied“, glaubt Rangelowa. Er will die Regierung „destabilisieren“. Andere reichen eine profane Erklärung: Bulgarien will nicht in Rubel zahlen und hatte zufällig einen frühen Rechnungstermin. Wieder andere erinnern, dass Bulgariens Liefervertrag mit Gazprom ohnehin zu Jahresende ausgelaufen wäre.
Der Schaden hält sich in Grenzen. Bulgariens Gasabhängigkeit von Russland ist zwar hoch – mehr als 90 Prozent. Aber der Anteil am Energiemix ist klein. Gasheizungen in Haushalten sind rar. Und im Laufe des Jahres soll endlich eine Pipeline über Griechenland Gas aus Aserbaidschan pumpen und ein Drittel des Bedarfs decken. Auch ein griechischer Flüssiggasterminal entsteht unter bulgarischer Beteiligung. Die Ausgangslage ist für den Schwarzmeeranrainer jedenfalls bedeutend günstiger als für den Binnenstaat Österreich, betont Schallenberg.
Abhängig von russischem Öl
Andererseits gibt es auch hier viele Abhängigkeiten. In Kosloduj, im AKW, glühen russische Brennstäbe. Am Schwarzen Meer in Burgas raffiniert man russisches Öl. Bulgarien, das machte die Außenministerin deutlich, besteht auch deshalb auf eine Übergangsfrist beim Ölembargo. Denn die Ölabhängigkeit ist heikler als jene vom Gas, sagt Daniel Smilow, Chef des Thinktanks Centre for Liberal Strategies. Wenn die Ölpreise aus dem Ruder laufen, würde es „gefährlich“für die Stimmung im Land. Denn das spüren dann die Bulgaren in der Geldbörse.
In den Supermarktregalen wütet die Inflation. 250 Gramm Butter kosten in Sofia fast doppelt so viel wie noch vor einem Jahr, sechs Leva, umgerechnet knapp drei Euro. Das ist sozialer Sprengstoff in einem Land, in dem sich Mindestpensionisten mit knapp 200 Euro begnügen müssen. Auf die Strompreise für Private haben sie in der Not einen Preisdeckel gedrückt.
Denn kein EU-Land ist ärmer als Bulgarien, keines zählt pro Kopf mehr Coronatote – und keines hat 2021 öfter gewählt. Dreimal nahmen sie Anlauf, bevor im Dezember eine ganz ungewöhnliche Vier-Parteien-Koalition gebildet wurde. Zwei „Harvard Boys“führen sie an. Das dezidiert prowestliche Reformer-Duo teilt sich die Rollen: Kiril Petkow gibt den volksnahen Premier. Finanzminister Assen Wassilew soll im Hintergund die Fäden ziehen. Schallenberg traf Wassilew am Montag.
Der Koalition gehören neben Petkows Antikorruptionspartei auch ein bürgerliches Bündnis, die Populistenpartei eines Showmasters und die russophilen Sozialisten an. Man ahnt: Diesen bunten Haufen zusammenzuhalten ist schon in Friedenszeiten ein Kunststück. Der Verteidigungsminister flog aus der Regierung, weil er den Krieg wie Moskau als „Operation“verharmlost hat. Er will eine eigene Partei gründen. Vor einer Woche blickte die Regierung in den Abgrund, als die prorussischen Sozialisten drohten, die Regierung zu sprengen, falls sie Waffenlieferung beschließt. Der Kompromiss: Bulgarien liefert keine Waffen, aber es repariert sie. Es öffnet auch seinen Schwarzmeerhafen in Warna für ukrainischen Exportweizen und zeigt sich auch sonst solidarisch. Waffenlieferungen aber lehnt die Bevölkerungsmehrheit ab, auch Präsident Rumen Radew, ein Exgeneral und Russlandfreund auf sozialistischem Ticket. Schallenberg war eineinhalb Stunden bei ihm. Unter vier Augen.