Phänomen Alcaraz: Das Erfolgsrezept
Analyse. Der 19-jährige Spanier ist Gegenwart und Zukunft des Tennissports, in nur vier Wochen könnte er die French-Open-Trophäe stemmen. Wieso der Teenager 2022 von Sieg zu Sieg eilt.
Madrid/Wien. „Ich habe keine Limits und möchte mir auch keine setzen.“Das sagt Carlos Alcaraz, 19-jähriger Tennisprofi aus El Palmar, Murcia. Und man ist geneigt, dem Teenager zu glauben, so wie er in den vergangenen Wochen die Szene aufgemischt hat.
Triumphe in Rio, Miami, Barcelona und Madrid, eine Saisonbilanz von 28:3, allein acht (!) Siege gegen Top-Ten-Spieler (bei nur zwei Niederlagen): Alcaraz ist der derzeit beste Spieler der Welt und zugleich Maßstab dieses Sports. Doch was macht den Schützling des ehemaligen Weltranglistenersten Juan Carlos Ferrero so speziell? Ein Erklärungsversuch.
Schlagrepertoire
Alcaraz hat keine offensichtliche Schwäche, das macht ihn für seine Gegner besonders unangenehm zu bespielen. Er beherrscht Offensive wie Defensive in höchster Qualität, in Kombination ist das auf diesem Niveau eine Rarität. Denn vor allem jüngere Hard Hitter wie Jannik Sinner, Félix AugerAliassime oder Denis Shapovalov haben Mankos in der Defensive. Alcaraz aber entschied im Finale von Madrid (6:3, 6:1) mehr als 50 Prozent der Ballwechsel für sich, in denen Alexander Zverev schon die Kontrolle übernommen hatte: eine überragende Quote.
Tatsächlich wirkt der Spanier wie ein Hybrid der „Big Three“Rafael Nadal, Roger Federer und Novak Djoković. Alcaraz vereint dabei Physis und Kampfgeist von Nadal, Spielverständnis und Offensivdrang von Federer sowie Defensivqualitäten und Beweglichkeit von Djoković. Neben Vor- und Rückhand (der Rückhand-Longline-Return imponiert), die ohnehin ins Auge stechen, gefallen vor allem zwei Schläge: Stopp und Kick-Aufschlag (Djoković: „Der Kick ist gewaltig“). Alcaraz’ Spiel, das ist bereits belegt, funktioniert auf Sandund Hartplatz.
Spielverständnis
Die Art und Weise, wie Alcaraz mit gerade einmal 19 Jahren – er hatte erst am 5. Mai Geburtstag – das Spiel versteht und „liest“, ist vielleicht der bemerkenswerteste Umstand. Für gewöhnlich brauchen junge Spieler Zeit und viele Matches, um Erfahrungen zu sammeln und aus Fehlern und falsch getroffenen Entscheidungen auf dem Platz ihre Schlüsse zu ziehen.
Bei Alcaraz scheint ungemein viel naturgegeben. Er trifft intuitiv viele richtige Entscheidungen: wann und wie er seinen (sehr guten) Stopp einsetzt und Gegner narrt, in welchen Situationen er mit Serve and Volley oder einem Angriffsschlag den Weg an das Netz sucht. Alcaraz’ Reife und Variabilität in seinem Spiel würden niemals vermuten lassen, dass der Shootingstar erst 82 Matches auf der ATP-Tour bestritten hat.
Physis
Nicht nur spielerisch, auch optisch macht Alcaraz nicht den Eindruck eines typischen 19-Jährigen. Der Spanier ist ein Kraftpaket, erinnert nicht nur in dieser Hinsicht an den jüngeren Rafael Nadal. Den Beweis für seine physischen Qualitäten lieferte Alcaraz auch in Madrid ab: Er überstand zwei kräftezehrende Drei-Satz-Matches gegen Nadal und Djokov´ıc innerhalb von nicht einmal 30 Stunden, ehe er im Endspiel gegen Zverev (das Halbfinale des Deutschen endete am Sonntag erst nach Mitternacht) ebenfalls den fitteren Eindruck machte.
Dass Alcaraz seine Nennung für das dieswöchige Turnier in Rom nach den Strapazen von Madrid am Montag zurückzog, ist ein kluger Schachzug. Die Form stimmt, eine körperliche und mentale Auszeit vor den French Open (Start am 22. Mai) macht Sinn.
Körpersprache
Alcaraz versteht das Spiel mit den Emotionen. Die „Presse“konnte sich in Madrid selbst davon überzeugen, wie der Weltranglistensechste immer wieder die Zuschauer ins Geschehen mit einbezog und sich selbst pushte. Mit seiner positiven und kämpferischen Körpersprache sendet Alcaraz auch Signale an sein Gegenüber.
Umfeld
Angeführt von Trainer Juan Carlos Ferrero hat sich früh ein höchst professionelles Umfeld formiert. Alcaraz und Ferrero, ehemalige Nummer eins der Welt und Gewinner der French Open 2003, arbeiten seit September 2018 zusammen. Alcaraz, einer von vier Söhnen, gilt als Familienmensch. Die Familie lebt Tennis. Vater Carlos wollte einst selbst Profi werden.