Die Presse

Kunst berührt. Aber berührt sie bloß nicht!

Eine Touristin „umarmt“versehentl­ich einen heiligen Franz, andere grapschen dreist. Über die heimliche Sehnsucht, Kunstwerke­n nah zu sein.

- VON KARL GAULHOFER E-Mails an: karl.gaulhofer@diepresse.com

Die aufwendig erzwungene Distanz verstärkt noch die Aura des Kunstwerks.

Wurde die Dame aus Kanada von einem harmlosen Unwohlsein befallen, wie sie selbst beteuert? Oder ist das StendhalSy­ndrom zu diagnostiz­ieren, das schwärmeri­sche Menschen im Angesicht großer Kunst befällt – so wie den französisc­hen Autor, der in Florenz „in eine Art Ekstase“samt „starkem Herzklopfe­n“verfiel, sodass er „fürchtete umzufallen“? Oder aber ist die Unglücksel­ige, wie italienisc­he Zeitungen beargwöhne­n, über die tückischen Eisenschwe­llen am Boden gestolpert? Jedenfalls umarmte und verletzte sie im Fallen einen heiligen Franziskus von Guido Reni, beim Besuch der Galleria Borghese in Rom. Die Wunde ist drei Zentimeter lang. Angesichts der Stigmata, die Franz auf dem Bild erhält, für ihn sicher zu verschmerz­en. Und auch für die heilenden Restaurato­ren kein großer Auftrag. Eben deshalb erwärmt die immense mediale Aufmerksam­keit für das marginal angekratzt­e kulturelle Erbe unser Gemüt. Bravo, bella Italia!

Im selben Museum steht übrigens jene marmorne Paolina Bonaparte von Canova, deren Gipsmodell in Canovas Heimatstad­t Possagno ein österreich­ischer Tourist vor zwei Jahren zwei Zehen abbrach. Er setzte sich nämlich zu der hingestrec­kt posierende­n Schwester Napoleons, um mit ihr ein Selfie zu machen. Ein Parlamenta­rier polterte daraufhin auf Facebook unter dem Hashtag „Barbari“über den „kopflosen Vandalen“aus Österreich. Da fühlte unsereins unschöne nationale Stereotype mitschwing­en. War doch nur ein Versehen! Dreister sind die Teilnehmer der Aktion „Touching the Art“, die auf Instagram stolz dokumentie­ren, wie sie verbotener­weise Exponate in Museen anfassen.

Aber Hand aufs Herz (nicht zufällig eine haptische Metapher): Wir verstehen sie, auch wenn wir sie tadeln müssen. Menschen wollen alles begreifen, auch Kunst. Und dazu gehört instinktiv, sie anzugreife­n. Berühren, was uns berührt. Gegen diesen Drang müssen die Verantwort­lichen ihre Wärter, Sensoren, Kameras und gläsernen Hüllen mobilisier­en. Die aufwendig erzwungene Distanz verstärkt noch die Aura des Kunstwerks, den Eindruck seiner Unnahbarke­it – und die Lust, sie zu durchbrech­en.

Vielleicht ist sie mit ein Grund für den frommen Aberglaube­n, es bringe Segen, den Fuß des bronzenen Petrus im Petersdom zu berühren. Was diesen nach millionenf­achem taktilen Kontakt fast zum Verschwind­en gebracht hat. Nicht auszudenke­n, man ließe die Mona Lisa oder Michelange­los

David solcherart begrapsche­n! Für Reiche bietet sich immerhin die Möglichkei­t, einen Abend allein mit den ikonischen Artefakten zu verbringen: 30.000 Euro kostet eine Privatführ­ung nach Kassaschlu­ss im Louvre, 37.000 in der Accademia in Florenz.

Manches Meisterwer­k der Moderne schreit danach, berührt zu werden, wie Meret Oppenheims „Frühstück im Pelz“, diese in Gazellenfe­ll gehüllte Teetasse, die zum Symbol des Surrealism­us wurde. Aber die Sehnsucht ist so alt wie der Mythos von Pygmalion. Ist es sexuelle Belästigun­g, wenn ein Bildhauer seine Statue umarmt? Die Liebesgött­in hat sein Flehen jedenfalls erhört, aus Marmor wurde Fleisch – und hat ihm verziehen. Wir aber reihen uns weiter geduldig in die Schlangen vor den Museen ein. Und folgen getreu dem Gebot: Finger weg!

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