Kunst berührt. Aber berührt sie bloß nicht!
Eine Touristin „umarmt“versehentlich einen heiligen Franz, andere grapschen dreist. Über die heimliche Sehnsucht, Kunstwerken nah zu sein.
Die aufwendig erzwungene Distanz verstärkt noch die Aura des Kunstwerks.
Wurde die Dame aus Kanada von einem harmlosen Unwohlsein befallen, wie sie selbst beteuert? Oder ist das StendhalSyndrom zu diagnostizieren, das schwärmerische Menschen im Angesicht großer Kunst befällt – so wie den französischen Autor, der in Florenz „in eine Art Ekstase“samt „starkem Herzklopfen“verfiel, sodass er „fürchtete umzufallen“? Oder aber ist die Unglückselige, wie italienische Zeitungen beargwöhnen, über die tückischen Eisenschwellen am Boden gestolpert? Jedenfalls umarmte und verletzte sie im Fallen einen heiligen Franziskus von Guido Reni, beim Besuch der Galleria Borghese in Rom. Die Wunde ist drei Zentimeter lang. Angesichts der Stigmata, die Franz auf dem Bild erhält, für ihn sicher zu verschmerzen. Und auch für die heilenden Restauratoren kein großer Auftrag. Eben deshalb erwärmt die immense mediale Aufmerksamkeit für das marginal angekratzte kulturelle Erbe unser Gemüt. Bravo, bella Italia!
Im selben Museum steht übrigens jene marmorne Paolina Bonaparte von Canova, deren Gipsmodell in Canovas Heimatstadt Possagno ein österreichischer Tourist vor zwei Jahren zwei Zehen abbrach. Er setzte sich nämlich zu der hingestreckt posierenden Schwester Napoleons, um mit ihr ein Selfie zu machen. Ein Parlamentarier polterte daraufhin auf Facebook unter dem Hashtag „Barbari“über den „kopflosen Vandalen“aus Österreich. Da fühlte unsereins unschöne nationale Stereotype mitschwingen. War doch nur ein Versehen! Dreister sind die Teilnehmer der Aktion „Touching the Art“, die auf Instagram stolz dokumentieren, wie sie verbotenerweise Exponate in Museen anfassen.
Aber Hand aufs Herz (nicht zufällig eine haptische Metapher): Wir verstehen sie, auch wenn wir sie tadeln müssen. Menschen wollen alles begreifen, auch Kunst. Und dazu gehört instinktiv, sie anzugreifen. Berühren, was uns berührt. Gegen diesen Drang müssen die Verantwortlichen ihre Wärter, Sensoren, Kameras und gläsernen Hüllen mobilisieren. Die aufwendig erzwungene Distanz verstärkt noch die Aura des Kunstwerks, den Eindruck seiner Unnahbarkeit – und die Lust, sie zu durchbrechen.
Vielleicht ist sie mit ein Grund für den frommen Aberglauben, es bringe Segen, den Fuß des bronzenen Petrus im Petersdom zu berühren. Was diesen nach millionenfachem taktilen Kontakt fast zum Verschwinden gebracht hat. Nicht auszudenken, man ließe die Mona Lisa oder Michelangelos
David solcherart begrapschen! Für Reiche bietet sich immerhin die Möglichkeit, einen Abend allein mit den ikonischen Artefakten zu verbringen: 30.000 Euro kostet eine Privatführung nach Kassaschluss im Louvre, 37.000 in der Accademia in Florenz.
Manches Meisterwerk der Moderne schreit danach, berührt zu werden, wie Meret Oppenheims „Frühstück im Pelz“, diese in Gazellenfell gehüllte Teetasse, die zum Symbol des Surrealismus wurde. Aber die Sehnsucht ist so alt wie der Mythos von Pygmalion. Ist es sexuelle Belästigung, wenn ein Bildhauer seine Statue umarmt? Die Liebesgöttin hat sein Flehen jedenfalls erhört, aus Marmor wurde Fleisch – und hat ihm verziehen. Wir aber reihen uns weiter geduldig in die Schlangen vor den Museen ein. Und folgen getreu dem Gebot: Finger weg!