Im Gleichschritt in die Nato
Beitritte. Nach dem Ja der Sozialdemokraten will neben Helsinki nun auch Stockholm einen Antrag auf Mitgliedschaft im Bündnis stellen. Für das neutrale Schweden geht damit eine historische Ära zu Ende.
Stockholm. Sei t fast 208 Jahren hat es kei nen Krieg mehr auf schwedischem Boden gegeben. Auch die Neutralität des Landes hat dazu beigetragen. Zwar galt Schwedens lediglich repräsentativer König im Zweiten Weltkrieg als glühender Verehrer Adolf Hitlers und mit ihm viele Landsleute, wie der spätere Gründer von Ikea. Stockholm erlaubte deutschen Truppen den Transit, um Norwegen zu besetzen, und erkaufte sich damit die Freiheit. Doch das Land schwenkte rechtzeitig um, als Deutschland am Verlieren war. So verkaufte das dank Neutralität völlig intakte Industrieland alle möglichen Güter, wie etwa kriegsentscheidenden Stahl, sowohl an Hitler als auch an die Alliierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg es durch seine Unversehrtheit und die Gewinne aus dem Krieg schnell zu einem der reichsten Länder Europas auf. Zwar stand es dann in den 1970er- und 1980er-Jahren eher auf westlicher Seite, betrieb aber auch regen Handel mit dem Ostblock. Wieder war die Bündnisfreiheit von Vorteil.
Diese dürfte nun den letzten Atemzug tun. Nachdem das ebenso neutrale Finnland seinen Beitrittswunsch aus Angst vor Russland, mit dem es eine mehr als 1300 Kilometer lange Grenze teilt, bekannt gegeben hatte, wurde Sonntagmittag in Stockholm verkündet, dass auch Schweden am Dienstag das offizielle Nato-Beitrittsgesuch einreichen werde. Dies meldete die Tageszeitung „Svenska Dagbladet“unter Berufung auf Regierungsquellen.
Die regierenden Sozialdemokraten hielten am Sonntag noch einen Parteitag ab, bei dem sich die in der Nato-Frage zuletzt noch zerstrittenen Genossen doch noch auf ein Ja zum Bündnisbeitritt einigten. Damit ist der Wegfürei ne Parlamentsmehrheit geebnet.
Schweden und Finnland wollen nun im Gleichschritt in die Nato eintreten. Damit dies gelingt, wird entscheidend sein, ob der Prozess in Finnland bis Dienstag ebenfalls abgeschlossen ist. Das Land werde einen entsprechenden Antrag zur Aufnahme in die Militärallianz stellen, versicherten der Präsident, Sauli Niinistö, und Regierungschefin Sanna Marin am Sonntag. Das finnische Parlament muss dem Schritt noch heute, Montag, zustimmen, eine Mehrheit gilt aber als sicher. Am Montagnachmittag wird die schwedische Regierung voraussichtlich ebenfalls eine positive Entscheidung treffen. Bereits vor dem Treffen der Sozialdemokraten hieß es aus Parteikreisen, dass man sich wohl auf ein Ja einigen werde.
Einigen geht es zu rasch
Aber aus der regierenden Arbeiterpartei gibt es auch kritische Stimmen. Es hieß, dass die Parteiführung die Gegner des Nato-Beitritts übergangen habe und dass kein gewöhnliches Parteimitglied während der Sondierung das Wort ergreifen durfte, wie die Zeitung „Expressen“berichtete. „Ich bin sehr enttäuscht. Ich habe das Gefühl, dass uns die Führung überrollt“, sagte etwa das Parteimitglied Kent Vilhelmsson. Ex-Außenministerin Margot Wallström ist eine von mehreren mächtigen Sozialdemokratinnen, die die internen Sitzungen geleitet hatten. Sie selbst würde „widerwillig“zu einem Ja tendieren, sagte sie.
Auch schwedische Staatswissenschaftler hatten in den vergangenen Tagen gewarnt, dass eine solch große Entscheidung nicht so rasch getroffen werden dürfe. Vertreter der Regierung sind erst vor wenigen Tagen mit Vertretern anderer Nato-Mitgliedstaaten zusammengetroffen, um die Vorbereitung des Beitritts zu besprechen. Vergangene Woche besuchte die sozialdemokratische Regierungschefin Magdalena Andersson gemeinsam mit der finnischen Genossin und Amtskollegin Sanna Marin Berlin, um mit Bundeskanzler Olaf Scholz zusammenzutreffen, der anschließend ankündigte, dass Schweden bei einem Bewerbungsverfahren mit der Unterstützung Deutschlands rechnen könne. Schweden hat auch ein Abkommen über militärische Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich abgeschlossen.
Die Nato-Staaten haben beiden Ländern eine rasche Aufnahme in Aussicht gestellt. Deutschland würde einen Beitritt der beiden Länder „sehr schnell“ratifizieren, kündigte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Sonntag bei informellen Beratungen mit ihren Nato-Kolleginnen und -Kollegen in Berlin an. Nato-Vizegeneralsekretär Mircea Geoan zeigte sich zuversichtlich, dass die Alliierten mögliche Aufnahmeanträge „konstruktiv und positiv“prüfen würden. Und auch die USA haben einen finnischen und möglichen schwedischen Nato-Antrag bereits begrüßt. Widerstand kam lediglich aus der Türkei.
Mit seinem öffentlichen Widerstand gegen einen Nato-Beitritt von Finnland und Schweden hat der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdog˘an, die Allianz aufgeschreckt. Die beiden skandinavischen Länder böten anti-türkischen Organisationen wie der kurdischen PKK Unterschlupf, beschwerte er sich. Mit ihrem Veto als NatoMitglied kann die Türkei die Aufnahme neuer Mitglieder zwar verhindern, doch Erdog˘ans Widerstand hielt gerade einmal 24 Stunden. Ein Berater des Präsidenten stellte klar, dass Ankara die Tür für Helsinki und Stockholm nicht zugeschlagen habe. Dieses Dementi sprach er nicht zufällig gegenüber ausländischen Medien aus. Denn zu Hause in der Türkei will Erdog˘an mit seiner Kritik an den Skandinaviern als Verteidiger des Vaterlandes punkten.
Auf den ersten Blick bieten die Nato-Bewerbungen von Finnland und Schweden für Erdog˘an die ideale Chance, sich vor den türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen
im kommenden Jahr als starker Mann in Szene zu setzen. Er kann innenpolitisch punkten, ohne außenpolitisch viel zu riskieren. Die Vermittlerrolle der Türkei im Ukraine-Krieg hat den Westen beeindruckt. Finnland und Schweden werden die PKK-Aktivitäten in ihren Ländern möglicherweise etwas eindämmen, um ihn zu besänftigen. Vielleicht bekommt Erdog˘an sogar endlich seinen lang ersehnten Termin bei US-Präsident Biden, der den türkischen Staatschef bisher auf Distanz hält. Auch das könnte er dann innenpolitisch als Triumph verkaufen.
Langfristig tut Erdog˘an seinem Land keinen Gefallen. Zwar haben sich die Partner seit Langem an seine verbalen Eskapaden gewöhnt. Im Jahr 2009 stemmte sich Erdog˘an gegen die Wahl des damaligen dänischen Ministerpräsidenten Rasmussen zum Nato-Generalsekretär, bevor er nach viel Getöse doch zustimmte. Dass Erdog˘an aber mitten im Ukraine-Krieg grundlos einen Riss in der Einheit des Westens fabriziert, hinterlässt einen fahlen Nachgeschmack, selbst wenn nichts Konkretes daraus folgt.