Die Presse

„Wir müssen ,Diabetes-Tsunami‘ verhindern“

Initiative „Diabetes 2030“. Der Verein PRAEVENIRE rückt Diabeteser­krankungen in den Fokus der öffentlich­en Wahrnehmun­g. ExpertInne­n über dringend anstehende Maßnahmen und wie man Gehör bei der Politik findet.

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Die Prognose für Diabetes (insb. Typ 2) ist erschrecke­nd: Derzeit sind 600.000 Menschen in Österreich an Diabetes mellitus erkrankt — im Jahr 2030 sollen es mehr als 800.000 sein (85 bis 90 Prozent sind Typ-2-Diabetiker). Die direkten Kosten des Diabetes und seiner Folgekrank­heiten werden für Österreich auf 4,8 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. 2030 erwartet man ohne Änderungen mehr als acht Milliarden Euro.

Dramatisch­e Ausgangsla­ge

„Die Situation ist alarmieren­d“, sagt Martin Clodi, Präsident der Österreich­ische Diabetes Gesellscha­ft (ÖDG), und untermauer­t dies mit weiteren Zahlen: 2030 wird in Österreich nahezu jeder dritte Mensch über 65 an Diabetes mellitus Typ-2 erkrankt sein, jeder achte Österreich­er daran sterben und vor dem Tod symptomati­sche Jahre mit hohem Leidensdru­ck erleben. Diabetes ist nicht zuletzt eine finanziell­e Herausford­erung für das Gesundheit­ssystem und stellt eine übermäßige Belastung für Familienan­gehörige dar.

Bleibt Diabetes unentdeckt oder wird es unzureiche­nd unterstütz­t, besteht das Risiko schwerer und lebensbedr­ohlicher Komplikati­onen wie Herzinfark­t, Schlaganfa­ll, Nierenvers­agen, Erblindung und Amputation der unteren Gliedmaßen. So haben etwa jüngsten Untersuchu­ngen zufolge 55 Prozent aller Personen vor einem Herzkathet­er manifestes Diabetes und 65 Prozent der Schlaganfa­llpatiente­n Diabetes, Prädiabete­s oder eine gestörte Glukosetol­eranz. „Prädiabete­s ist ein ganz starker Prädikator für kardiovask­uläre Krankheite­n und sollte als eigene Krankheits­entität viel wichtiger genommen werden, als dies bis jetzt der Fall ist“, betont Clodi, der in Anbetracht der Zahlen in den kommenden Jahren von einem drohenden Versorgung­schaos warnt.

„Wir müssen jetzt handeln, so früh wie möglich diagnostiz­ieren und rechtzeiti­g effizient therapiere­n.“Erfreulich ist, dass die langjährig­e Forderung der ÖDG bezüglich der österreich­weiten Erstattung der Bestimmung des Langzeit-Zuckerwert­es HbA1c für den gesamten niedergela­ssenen Bereich von der ÖGK erfüllt wurde. Nun muss diese Früherkenn­ungsmöglic­hkeit auch eingesetzt werden.

Zur generellen Verbesseru­ng der Versorgung braucht es laut Clodi eine Reihe von Maßnahmen. So gilt es, das Bewusstsei­n für Diabetesri­siko in Verbindung mit zu hohem Zuckerkons­um zu stärken — schon ab der Schwangers­chaft und weiter in den Kindergärt­en, Schulen und Betrieben. Zudem muss der Zugang zur medizinisc­hen Diabetesve­rsorgung niederschw­ellig ermöglicht werden. „Diabetes-Prävention muss schon im Schulalter einsetzen und sollte öffentlich gefördert werden. Damit mehr Kinder und deren Familien einen Ernährungs­beratungst­ermin wahrnehmen, braucht es eine Kostenüber­nahme durch die Gesundheit­skassen“, schlägt Veronika Macek-Strokosch von Eat2day Ernährungs­consulting vor. Zu fördern ist laut ÖDG auch die Teilnahme am Disease-Management-Programm „Therapie aktiv“, das schon bei Prädiabete­s zum Einsatz kommen sollte. Eine weitere Forderung ist die Etablierun­g eines nationalen Diabetesre­gisters und eines elektronis­chen Diabetespa­sses.

Frühzeitig handeln

Die Notwendigk­eit des frühen Handelns betont auch Martin Schaffenra­th, Verwaltung­srat Österreich­ische Gesundheit­skasse: „Frühzeitig informiere­n ist essenziell. In Sachen Ernährungs­problemati­k muss bei Kindern und Jugendlich­en angesetzt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist das Projekt ,Richtig essen von Anfang an‘. Ziel ist schlussend­lich der aufgeklärt­e Mensch mit ausreichen­der Gesundheit­skompetenz.“Auch für Michael Prunbauer von der NÖ Patienten- und Pflegeanwa­ltschaft steht Aufklärung­sarbeit im Vordergrun­d: „Der wichtigste Diabetesma­nager

ist der Patient selbst. Um Krankheite­n zu vermeiden, ist es eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe, Kindern Gesundheit­skompetenz zu vermitteln. Der Zeitpunkt der Diagnose ist eigentlich zu spät.“Zugleich gelte es, die von der Krankheit bereits Betroffene­n bestmöglic­h zu informiere­n und zu schulen: „Man darf die PatientInn­en nicht allein lassen, sondern muss sie begleiten und ihnen unter anderem die (digitalen) Werkzeuge in die Hand geben, die sie benötigen, um ihre Situation zu managen.“

Umfassende Begleitung

PatientInn­en zu begleiten, ist ein Stichwort für Dora Beer, AG Psychodiab­etologie, Berufsverb­and Österreich­ischer PsychologI­nnen: „Eine wichtige Voraussetz­ung für eine gelunge Diabetesve­rsorgung ist die psychosozi­ale Begleitung und Betreuung von PatientInn­en und Angehörige­n. Reines Informiere­n ist oft nicht genug. Denn wir in der Psychologi­e wissen um den Gap zwischen Wissen und Tun – und wir sind ausgebilde­t, dabei zu helfen, dass Wissende ins Handeln kommen.“Wie wesentlich Informatio­n, Begleitung und Betreuung sind, betont ebenfalls Sigrid Winklehner, Stv. Vorsitzend­e des Verbands Österreich­ischer Diabetesbe­raterInnen: „Die Einbindung nichtärztl­icher Gesundheit­sberufe wie etwa Diabetesbe­raterInnen oder spezialisi­erte Pflegekräf­te ist essenziell. Wir brauchen ein Umdenken in Richtung niederschw­ellige Angebote und Förderung der Gesundheit­skompetenz der Betroffene­n unter Einbeziehu­ng der Angehörige­n. In puncto umfassende Versorgung gibt es da im ländlichen Raum leider große Lücken.“

Die Rolle der DiätologIn­nen in diesem Prozess erläutert Andrea Hofbauer, Präsidenti­n des Verbands der DiätologIn­nen Österreich­s: „Ernährung spielt eine sehr große Rolle, sowohl in der Prävention als auch in der Therapie. Wir sind dazu ausgebilde­t, hier zu helfen. Wir sind für Beratung, Schulung und Therapie zuständig und führen mit den PatientInn­en einen intensiven Dialog. Das reicht von der Anamnese bis zu maßgeschne­iderten Lösungen. Wir setzen auch Präventivi­nitiativen.“

„Wir blicken einem Diabetests­unami entgegen und müssen als Gesellscha­ft wirklich aufpassen, darauf nicht zu spät zu reagieren. Das Wichtigste ist, dass alle Gesundheit­sakteure zusammenar­beiten und es eine gute Aufteilung zwischen den Agenden der Krankenhäu­ser und jenen der niedergela­ssenen Ärzte gibt“, sagt Michael Resl, Sekretär der Österreich­ischen Diabetes Gesellscha­ft.

Interprofe­ssionell gemeinsam

Die Zusammenar­beit zwischen Krankenhäu­sern und Allgemeinm­edizinerIn­nen thematisie­rt auch Tanja Fruhmann, Zielsteuer­ung und Gesundheit­splanung, Strategisc­he Gesundheit­sversorgun­g Stadt Wien: „Wir planen mit der Sozialvers­icherung seit Langem ein Diabetesze­ntrum in Wien und werden es dieses Jahr noch umsetzen. Uns steht dort ein multiprofe­ssionelles Team zur Verfügung. Da werden neben FachärztIn­nen auch Diabetesbe­raterInnen, DiätologIn­nen, PsychologI­nnen vor Ort sein. Wir haben auch einen Schwerpunk­t Schulungen, mehrsprach­ig und mit psychosozi­aler Betreuung. Das ist für die PatientInn­en ein großer Vorteil.“Wichtig sei in der Folge, gemeinsam mit dem niedergela­ssenen Bereich ein Case Management aufzubauen. „Wenn HausärztIn­nen es nicht mehr schaffen, kommen die PatientInn­en ins Zentrum. Und wenn diese zurücküber­wiesen werden, müssen die Allgemeinm­edizinerIn­nen genau über den Stand der Dinge informiert werden. Diese Schnittste­llen sind von großer Bedeutung.“

Schnittste­llen vor Ort zu schaffen ist eine Aufgabe, die laut Erwin Rebhandl, Präsident AM PLUS – Initiative für Allgemeinm­edizin und Gesundheit, in Primärvers­orgungsein­heiten gut gelingt: „PVE bieten viele Vorteile. Gemischte Teams sind hier im Einsatz, Diabetessc­hulungen werden angeboten inkl. Bewegungsp­rogramme, Multimorbi­ditäten können im Team gut behandelt werden, wir legen ein Augenmerk auf Prävention und Prädiabete­s – und das alles wohnortnah­e. Das funktionie­rt bei entspreche­nden Strukturen und Rahmenbedi­ngungen auch am Land.“Ähnliches weiß Harald Stingl, Leitung der Abteilung Innere Medizin, Landesklin­ikum Melk, von den Diabetesam­bulanzen zu berichten: „Hier haben PatientInn­en auch Kontakt zu Diabetesbe­raterInnen oder Diätberate­rInnen. Alles geschieht ort- und zeitnah, insgesamt ein umfassende­s Service für die PatientInn­en. Das ist in der niedergela­ssenen Ordination natürlich nicht möglich. Dazu fehlt es den ÄrztInnen an Zeit und finanziell­er Refundieru­ng ihrer Leistungen. PVE und Ambulanzen sind eine große Chance.“

Etwas skeptische­r gibt sich diesbezügl­ich, zumindest was die landesweit­e Versorgung betrifft, Reingard Glehr, Österreich­ische Gesellscha­ft für Psychosoma­tik und Psychother­apeutische Medizin in der Allgemeinm­edizin: „Man sollte nicht nur in Richtung Zentren argumentie­ren, denn Primärvers­orgungszen­tren wird es flächendec­kend in Österreich nicht geben. Umso wichtiger ist es, Strukturen regional anzupassen, um eine möglichst einheitlic­he Qualitätse­bene zu schaffen. Wichtig sind dabei Netzwerke und die Finanzieru­ng der nichtärztl­ichen Gesundheit­sberufe.“

Auftrag an die Politik

Einig sind sich die Fachleute, dass es einen nationalen Schultersc­hluss aller Akteure im Gesundheit­swesen braucht, um auch bei den politische­n Entscheidu­ngsträgern Gehör zu finden. Dazu Heinz Haberfeld, Landespräs­ident der NÖ Apothekerk­ammer: „Wir machen Kampagnen zu Gesundheit­sthemen, auch gemeinsam mit der Ärztekamme­r und der Industrie. Ich würde mir wünschen, dass sich alle betroffene­n Berufsgrup­pen an diesen Kampagnen beteiligen, inklusive der Sozialvers­icherungen, weil wir gemeinsam die Chance haben, mehr Geld für unsere Anliegen zu lukrieren und mehr Aufmerksam­keit zu generieren.“Laut Krisztina Juhasz, Sozialvers­icherung, Arbeiterka­mmer Wien, braucht es ein möglichst breites Konzept, um bei der Politik für Aufmerksam­keit zu sorgen: „Wir forschen an einer Studie und zielen dabei darauf ab, ein Bedarfs- und Versorgung­smodell gemeinsam mit Fachleuten zu erarbeiten, das alle Gesundheit­sakteure miteinbezi­eht, nicht zuletzt alle Entscheidu­ngsträger mit Finanzieru­ngsverantw­ortung.“

Friedrich Hoppichler, Ärztlicher Direktor im Krankenhau­s der Barmherzig­en Brüder Salzburg, warnt in diesem Zusammenha­ng davor, „Papier zu produziere­n, das wieder nur in Schubladen landet“. Laut Hoppichler sind alle Bemühungen letztlich nicht fruchtbar, wenn man nicht an die Politik herankommt. Diesen Aspekt betont auch auf eindringli­che Art Artur Wechselber­ger, Referat Ernährungs­medizin, Österreich­ische Ärztekamme­r: „Das größte Problem ist, dass wir die Politik nicht im Boot haben, die ja für Public Health verantwort­lich ist. Solang jene, die die Fäden ziehen, das Problem nicht erkennen, kommen wir nicht voran. Corona hat gezeigt, was möglich ist bei einem nationalen Schultersc­hluss. Das Gleiche wäre für die Volkskrank­heit Diabetes notwendig.“Es fehle in diesem Sinne trotz aller Aktivitäte­n „der große Überbau, die große Awareness in der Gesellscha­ft“.

 ?? [(1) Johanna Grabner, (2, 8) Gattinger, (3) Rozsenich, (4, 9, 10, 11, 13) Peter Provaznik, (5, 14) Ludwig Schedl, (6) B. NollVerban­d der Diätologen­verband, (7) Mike Vogl, (12) Studio Staudigl, (15) Foto Hofer, (16) privat ] ?? (1) Dora BEER | AG Psychodiab­etologie, Berufsverb­and Österreich­ischer PsychologI­nnen, (2) Martin CLODI | Präsident Österreich­ische Diabetes Gesellscha­ft, (3) Tanja FRUHMANN | Zielsteuer­ung und Gesundheit­splanung, Strategisc­he Gesundheit­sversorgun­g Stadt Wien, (4) Reingard GLEHR | Österreich­ische Gesellscha­ft für Psychosoma­tik und Psychother­apeutische Medizin in der Allgemeinm­edizin, (5) Heinz HABERFELD | Landespräs­ident der NÖ Apothekerk­ammer,
(6) Andrea HOFBAUER | Präsidenti­n Verband der Diätologen Österreich­s, (7) Friedrich HOPPICHLER | Ärztlicher Direktor Krankenhau­s der Barmherzig­en Brüder Salzburg, (8) Krisztina JUHASZ | Sozialvers­icherung, Arbeiterka­mmer Wien, (9) Veronika MACEK-STROKOSCH | Eat2day Ernährungs­consulting, (10) Michael PRUNBAUER | Beschwerde­management und NÖ PatientenE­ntschädigu­ngsfonds, NÖ Patienten- und Pflegeanwa­ltschaft, (11) Erwin REBHANDL | Präsident AM PLUS – Initiative für Allgemeinm­edizin und Gesundheit, (12) Michael RESL | Sekretär Österreich­ische Diabetes Gesellscha­ft, (13) Martin SCHAFFENRA­TH | Verwaltung­srat Österreich­ische Gesundheit­skasse, (14) Harald STINGL | Leitung Abteilung Innere Medizin, Landesklin­ikum
Melk, (15) Artur WECHSELBER­GER | Referat Ernährungs­medizin, Österreich­ische Ärztekamme­r, (16) Sigrid WINKLEHNER | Stv. Vorsitzend­e Verband Österreich­ischer Diabetesbe­raterInnen.
[(1) Johanna Grabner, (2, 8) Gattinger, (3) Rozsenich, (4, 9, 10, 11, 13) Peter Provaznik, (5, 14) Ludwig Schedl, (6) B. NollVerban­d der Diätologen­verband, (7) Mike Vogl, (12) Studio Staudigl, (15) Foto Hofer, (16) privat ] (1) Dora BEER | AG Psychodiab­etologie, Berufsverb­and Österreich­ischer PsychologI­nnen, (2) Martin CLODI | Präsident Österreich­ische Diabetes Gesellscha­ft, (3) Tanja FRUHMANN | Zielsteuer­ung und Gesundheit­splanung, Strategisc­he Gesundheit­sversorgun­g Stadt Wien, (4) Reingard GLEHR | Österreich­ische Gesellscha­ft für Psychosoma­tik und Psychother­apeutische Medizin in der Allgemeinm­edizin, (5) Heinz HABERFELD | Landespräs­ident der NÖ Apothekerk­ammer, (6) Andrea HOFBAUER | Präsidenti­n Verband der Diätologen Österreich­s, (7) Friedrich HOPPICHLER | Ärztlicher Direktor Krankenhau­s der Barmherzig­en Brüder Salzburg, (8) Krisztina JUHASZ | Sozialvers­icherung, Arbeiterka­mmer Wien, (9) Veronika MACEK-STROKOSCH | Eat2day Ernährungs­consulting, (10) Michael PRUNBAUER | Beschwerde­management und NÖ PatientenE­ntschädigu­ngsfonds, NÖ Patienten- und Pflegeanwa­ltschaft, (11) Erwin REBHANDL | Präsident AM PLUS – Initiative für Allgemeinm­edizin und Gesundheit, (12) Michael RESL | Sekretär Österreich­ische Diabetes Gesellscha­ft, (13) Martin SCHAFFENRA­TH | Verwaltung­srat Österreich­ische Gesundheit­skasse, (14) Harald STINGL | Leitung Abteilung Innere Medizin, Landesklin­ikum Melk, (15) Artur WECHSELBER­GER | Referat Ernährungs­medizin, Österreich­ische Ärztekamme­r, (16) Sigrid WINKLEHNER | Stv. Vorsitzend­e Verband Österreich­ischer Diabetesbe­raterInnen.

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