Ein Ölboykott, der keener wird
EU-Sanktionen. Im Windschatten von Ungarns Vetodrohung hat sich ein halbes Dutzend Mitgliedstaaten große Ausnahmen vom geplanten Embargo für russisches Öl gesichert.
Brüssel. Von Viktor Orb n zu lernen heißt, sich Extrawürste zu sichern lernen. Diese Lektion des ungarischen Ministerpräsidenten dürften mehrere EU-Staaten derart konsequent beherzigt haben, dass vom Vorschlag der Europäischen Kommission vor zwei Wochen, bis Jahresende fast komplett aus dem Kauf russischen Rohöls und russischer Raffinerieprodukte wie Diesel auszusteigen, wenig übrig bleibt. Die Slowakei, Tschechien, Zypern, Malta, Griechenland und eben Ungarn haben sich im zähen Ringen der EU-Botschafter über den Sanktionstext ber eits Ausnahmen herausverhandelt, Bulgarien drängt ebenfalls auf solche. „Wir haben dieselben Ausnahmen vom Ölembargo gefordert, welche die anderen europäischen Länder bekommen, und wir werden sie auch kriegen“, sagte der stellvertretende Regierungschef, Assen Wassiliew.
Und trotz all dieser Extrawürste gibt es noch immer keine Einigung der Mitgliedstaaten. Das Treffen der EU-Außenminister am Montag in Brüssel blieb ergebnislos. Während die deutsche Außenministerin, Annalena Baerbock, sich in Zweckoptimismus übte und eine Einigung für „die nächsten Tage“ankündigte, nannte ihr litauischer Amtskollege, Gabrielius Landsbergis, mit Hinweis auf Ungarn den Schuldigen für die Blockade: „Die ganze Union wird jetzt leider von einem Mitgliedstaat, der uns nicht helfen kann, einen Konsens zu finden, in Geiselhaft genommen.“Der EU droht nach ihren hochtrabenden Ankündigungen ein geopolitisches Fiasko, das mehrere Fragen aufwirft. 1 Welche Ausnah menvom Ölembargo haben die genannten EU-Staaten sich ausbedungen?
Erstens längere Übergangsfristen, um sich vom russischen Öl freizumachen. Das gilt für Ungarn, Tschechien und die Slowakei. Die letzteren beiden sollen erst Mitte 2024 ihren Boykott vollständig umgesetzt haben, für Ungarn wäre das Angebot Ende 2024, aber das ist der Regierung unter Ministerpräsident Orb n noch immer zu früh. Bulgarien, dem der Kreml vorige Woche die Gaslieferungen abgestellt hat, wünscht sich eine vergleichbar lange Frist zum Ausstieg. Zweitens dürfen Tankschiffe unter EU-Flagge weiterhin russisches Öl und daraus erzeugte Produkte an Drittstaaten liefern. Darauf haben Griechenland, Malta und Zypern mit Rücksichtnahme auf ihre politisch einflussreiche Reederlobby beharrt.
2 Geht es Orb num die Sache – oder verfolgt er mit seiner Vetodrohung andere Ziele?
Zweifellos ist Ungarn stark von russischem Öl abhängig. Rund 65 Prozent seines Verbrauchs kommen derzeit aus Russland. Zudem ist es für das Binnenland mangels Seezugangs schwer, auf die Lieferung ersatzweiser großer Mengen per Schiff umzustellen. Doch in Brüssel argwöhnt man auch, dass Orb n versucht, Brüssel zur Freigabe der mehr als sieben Milliarden Euro zu erpressen, die dem Land aus dem EU-Wiederaufbaufonds zustünden, falls es die grassierende politische Korruption und den Missbrauch mit EU-Geldern einhegt. Die Regierung in Budapest wird nicht müde zu betonen, dass sie „Milliarden“von der Europäischen Union benötige, um ihr Energiesystem umzustellen. Zudem schwebt über Orbáns am Montag angelobter neuer rechtsnationaler Regierung das Damoklesschwert des sogenannten Konditionalitätsmechanismus: einer EU-Verordnung, die auch zum Einfrieren der herkömmlichen EU-Subventionen führen kann, wenn die Europäische Kommission der Ansicht ist, dass mit diesen Geldern in ein em Mitgliedsland aus rechtsstaatlichen Versäumnissen Schindluder getrieben wird.
3 Warum trennt man das Sanktionenpaket nicht auf – oder beschließt es ohne Ungarn?
Darüber diskutieren die 27 EU-Botschafter, derzeit ist aber weder das eine noch das andere eine realistische Option. Die übrigen Teile des sechsten Sanktionspakets ohne das Ölembargo zu beschließen hätte den Vorteil, dass dann beispielsweise neue Mitglieder des Kreml-Regimes sanktioniert würden und die wichtige Sberbank vom Swift-Finanzinformationssystem gekappt wür de.Bilaterale Ölembargos der 26 ohne Ungarn wiederum würden Probleme für den Binnenmarkt aufwerfen, dem Ungarn ja weiterhin zugehört und auf den es dann unsanktioniertes russisches Öl bringen könnte.
4 Wie lässt sich diese Blockade lösen, und was bringt so ein löchriges Ölembargo?
Wie so oft wird Ge ld die Dinge ins Rollen bringen. Die Kommission bereitet konkrete Vorschläge zum Ausstieg aus russischen Energiequellen vor – und auch dazu, wie die Mitgliedstaaten von der Union dabei finanziell unterstützt werden könnten. Hier dürfte es pekuniäre Anreize für Orb n geben, doch noch zuzustimmen. So oder so würde dieses EU-Embargo den erhofften Zweck, die russische Volkswirtschaft schockartig zu treffen, angesichts der vielen Ausnahmen und langen Übergangsfristen nicht erfüllen.