„Haben eigentlich eine Kommunikationskrise“
Corona. Virologe und Gecko-Mitglied Andreas Bergthaler spricht über die Infektiosität sowie Pathogenität neuer Varianten, die vier Szenarien für den Herbst und darüber, wie die Regierung mit falscher Kommunikation viel Vertrauen verspielt hat.
Die Presse: Die Variante Omikron, also BA.1, ist zwei- bis dreimal ansteckender als Delta, die um 60 Prozent ansteckender war als Alpha, die wiederum doppelt so ansteckend war wie der Wildtyp aus Wuhan. Dann kam BA.2, die noch einmal etwa doppelt so ansteckend ist wie BA.1. Jetzt breiten sich BA.4 bzw. BA.5 aus, zwischen den beiden Omikron-Untervarianten gibt es nur minimale Unterschiede. Um wie viel ansteckender sind diese beiden Varianten?
Andreas Bergthaler: Im Vergleich zu BA.2 haben sie einen Wachstumsvorteil von rund zehn Prozent pro Tag. Sie sind also noch einmal etwas ansteckender. Dieser Wachstumsvorteil scheint insbesondere mit der Fähigkeit zusammenzuhängen, die Immunantwort besser zu unterlaufen. Zur Einordung: Für den Wildtyp aus Wuhan wurde eine Basisreproduktionszahl von zwei bis drei berechnet. Eine infizierte Person steckt also im Schnitt zwei bis drei weitere an, sofern keinerlei Maßnahmen zur Verhinderung von Übertragungen gesetzt werden. Bei BA.2 stieg diese Zahl auf etwa zwölf. Mit dem Wachstumsvorteil bei BA.4 und BA.5 nähert sich Sars-CoV-2 schrittweise der Infektiösität der Masern an, ein Virus, das mit einer Basisreproduktionszahl von 18 das ansteckendste ist, das wir kennen.
Bei Delta hieß es, dass die Variante wegen ihrer hohen Ansteckungsfähigkeit kaum zu verdrängen ist. Dann kam Omikron und veränderte alles. Wie ansteckend kann Sars-CoV-2 noch werden? Oder ist dieses Virus irgendwann ausmutiert?
In dieser Hinsicht trauen sich die wenigsten Virologen Prognosen zu stellen. Dass es nach Alpha, Delta und Omikron jetzt mit BA.4 bzw. BA.5 erstmals zu einer Wachablöse innerhalb der Variante Omikron – in Südafrika sind BA.4 und BA.5 bereits dominant – gekommen ist, zeigt, dass die Evolution des Virus nicht vorhersehbar ist. Um Ihre Frage direkt zu beantworten: Es gibt keine Anzeichen, dass SarsCoV-2 ausmutiert ist. Daher ist auch nicht auszuschließen, dass es noch ansteckender wird. Etwa dann, wenn sich eine neue Variante der Immunantwort noch effizienter entziehen kann. Oder wenn sich das Virus dahingehend verändert, dass der saisonale Effekt bei seiner Ausbreitung plötzlich eine geringere Rolle spielt, es also auch im Sommer ähnlich stark zirkuliert wie im Winter. Denkbar wäre natürlich auch, dass es nach einer Mutation wieder deutlich pathogener wird, also häufiger schwere Verläufe nach sich zieht.
Werden BA.4 und BA.5 im Herbst die dominierenden Varianten in Österreich sein?
Anzeichen dafür gibt es, aber noch ist es zu früh, um diese Frage zu beantworten. Genauso kommt auch BA.2.12.1 infrage. Diese Omikron-Untervariante ist in New York schon für mehr als 60 Prozent der Neuinfektionen verantwortlich und ähnlich ansteckend wie BA.4 und BA.5.
Was meinen Sie mit „Anzeichen dafür gibt es“?
Der Wachstumsvorteil von BA.4 und BA.5 bestätigt sich mittlerweile auch in Ländern außerhalb Südafrikas. So war BA.5 vergangene Woche für mehr als 30 Prozent der Neuinfektionen in Portugal verantwortlich, und die dortigen Gesundheitsbehörden erwarten, dass sie noch in diesem Monat die dominante Variante wird. Auch in Österreich sind BA.4, BA.5 und BA.2.12.1 angekommen und breiten sich – wenn auch meist auf niedrigem Niveau – aus. Aus Wien wurden bisher 66 Infektionen mit BA.4 und 14 mit BA.5 gemeldet. In einigen der von uns analysierten Kläranlagen war BA.4 Ende April zu ein bis zwei Prozent enthalten.
Wenn sie in Südafrika rasch das Infektionsgeschehen übernahmen, ist doch wohl auch in Europa davon ausgehen, oder?
Nicht zwingend. In Südafrika war die vierte Welle primär BA.1-getrieben und – anders als in Europa – gefolgt von einer deutlich kleineren BA.2-Welle. Es wurde gezeigt, dass Immunseren von mit BA.1 infizierten Personen in der Petrischale kaum BA.4 und BA.5 neutralisieren können. Da wir in Österreich viele Infektionen mit BA.2 hatten, würde ich für Österreich einen tendenziell höheren Schutz vor Reinfektion mit den eng verwandten Untervarianten BA.4 und BA.5 erwarten. Außerdem beginnt in Europa gerade der Sommer, in Südafrika hingegen der Winter. Nicht zuletzt ist dort auch die Impfquote niedriger, rund 30 Prozent der Bevölkerung sind zweifach, fünf Prozent dreifach geimpft.
BA.1 und BA.2 sind ja hinsichtlich Pathogenität harmloser als Delta. Gilt das auch für BA.4, BA.5 und BA.2.12.1?
Daten aus Südafrika deuten darauf hin, dass es bei BA.4 und BA.5 einen zumindest ähnlich starken Entkoppelungseffekt von Infektionszahlen und schweren Verläufen gibt, wie das schon bei BA.1 und BA.2 beobachtet wurde. Für die Untervariante BA.2.12.1 wird in den USA Ähnliches vermutet.
Weil Sie vorhin die Reinfektionen erwähnten. Sind nun dreifach Geimpfte, die eine Infektion mit BA.2 durchgemacht haben, also in den vergangenen Monaten erkrankt sind, vor einer Reinfektion mit BA.4 und BA.5 einigermaßen verlässlich geschützt?
Mir liegen dafür keine konkreten Daten vor, wenngleich erwartet wird, dass eine durchgemachte Infektion mit BA.2 einen besseren Schutz vor BA.4 und BA.5 bietet als eine Infektion mit BA.1. Wesentlich ist jedoch, dass wir von vielen Impfstudien wissen, dass in den zwei bis drei Monaten nach der Impfung ein Schutz vor Ansteckung in der Größenordnung von 50 bis 70 Prozent vorhanden ist. Dieser lässt danach stark nach. Das hängt wahrscheinlich mit dem sinkenden AntikörperTiter
zusammen. Der Schutz vor schweren Verläufen im Sinn eines Krankenhausaufenthalts hält aber länger an.
Was ist nach zweieinhalb Jahren Pandemie Ihre wichtigste persönliche Erkenntnis?
Dass es mich erstaunt, wie schlecht Österreich bei der Verfügbarkeit von verknüpften Daten immer noch dasteht. Das ist kaum entschuldbar, weil wir mit diesen Daten ein überaus wertvolles Instrument in der Hand hätten, um die Wirksamkeit von Maßnahmen zu hinterfragen und nachzuweisen. Dieser Umstand ist nicht nur – im Übrigen zu Recht – Wasser auf den Mühlen jener Menschen, die zu jedweden Vorsichtsmaßnahmen kritisch eingestellt sind; sondern es hindert uns auch daran, schneller und effizienter auf Entwicklungen zu reagieren – etwa auf neue Varianten. Wenn beispielsweise in Dänemark eine neue Variante auftaucht, können die dortigen Gesundheitsbehörden zentral nachverfolgen, wie es den Infizierten zwei, drei Wochen später ergangen ist. Damit lassen sich klinische Verläufe und Impfschutz rasch erheben. Das ist in Österreich so immer noch nicht möglich. Deswegen setze ich große Hoffnungen in die Covid-19-Registerverordnung, so sich denn auch wirklich alle Bundesländer daran beteiligen. Ein weiteres Beispiel betrifft die Risikoeinschätzung
von Langzeitfolgen wie Long Covid, für die stark verbesserte Datenanalysen wesentlich wären. Oder die vier Szenarien, die für den Herbst beschrieben wurden. Anhand welcher Kriterien und Daten wird bestimmt, welches Szenario sich abzeichnet, um die entsprechenden Hebel umzulegen? Wenn diese Daten nicht bald und verknüpft vorliegen, nehmen wir uns selbst die Chance für möglichst nachvollziehbare und effektive Entscheidungen. Da bleiben wir dann beispielsweise bei neuen Varianten weiterhin oft nur Beifahrer und sind abhängig von Daten aus dem Ausland – in der Hoffnung, dass sie auf Österreich übertragbar sind. Interessanterweise kämpfen Deutschland und die Schweiz mit ähnlichen Problemen. Vielleicht sollte man einmal die Auswirkungen des ausgeprägten Föderalismus in den deutschsprachigen Ländern näher untersuchen.
Sie haben die vier Szenarien erwähnt, sie reichen vom Ende der Pandemie bis hin zur erneuten Eskalation, mit zwei Mittelwegen dazwischen – je nach dominierender Variante. Welches halten Sie für das wahrscheinlichste?
Szenario eins und vier sind wohl die unwahrscheinlichsten, das kann ich sagen, ohne mich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Ausschließen würde ich jedoch keines. Ich denke aber, dass der unsicherste Faktor bzw. die größte Herausforderung nicht unbedingt auf Virusseite zu suchen ist, obwohl die vier Szenarien genau das suggerieren. Vielmehr wird es auch von unserem Verhalten, dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und der Kommunikation abhängen. Denn eigentlich haben wir eine Kommunikationskrise. Die Ankündigung der Impfpflicht und ihre Rücknahme sind ein eindrückliches Beispiel dafür, wie man viel Vertrauen verspielt. Ziel sollte daher sein, dass Bund und Länder gemeinsam möglichst viele Lehren aus den vergangenen beiden Jahren ziehen, damit sich nicht alles wiederholt, was aber zu befürchten ist. So wird es beispielsweise realpolitisch kaum möglich sein, Maßnahmen zur Eindämmung der Virus-Ausbreitung schon lang vor einem drohenden Kontrollverlust anzuordnen, obwohl genau das notwendig wäre. Daher komme ich noch einmal auf die mangelhafte Verfügbarkeit von Daten zurück. Könnte die Wirksamkeit von getroffenen Entscheidungen aufgrund einer besseren Datenlage schnell und transparent evaluiert werden, wäre die Bereitschaft in der Bevölkerung, sich daran zu beteiligen, wahrscheinlich viel höher.