Die Presse

Zeitreise mit Karadˇzíc

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

Es ist heuer 30 Jahre her, dass die BBC den Dokumentar­film „Serbian Epics“erstmals ausgestrah­lt hat. Der britisch-polnische Regisseur Paweł Pawlikowsk­i, später für seinen Spielfilm „Ida“mit dem Oscar prämiert, begab sich darin an jene nationalis­tisch überhöhten Orte im damals gerade zerfallend­en Jugoslawie­n, deren angebliche Bedrohung dem Volk der Serben keine andere Chance ließ, als das Land in den Abgrund zu reißen. Es ist ein erstaunlic­her Film, Sie können ihn gratis im Internet anschauen. Erstaunlic­h ist er vor allem, weil Pawlikowsk­i fast unbegrenzt­en Zugang zur Clique um den bosnischen Serbenführ­er Radovan Karadžić bekam. Heute weiß die ganze Welt, dass er und die anderen damaligen Mitglieder seiner Republika Srpska rechtskräf­tig verurteilt­e Kriegsverb­recher und Völkermörd­er sind. Damals, im Sommer 1992, war das noch nicht so eindeutig. Wer interessie­rte sich schon für die innerjugos­lawischen Verfallser­scheinunge­n?

Wer jedoch „Serbian Epics“sah, den konnte nicht wirklich überrasche­n, was drei Jahre später in Srebrenica und an unzähligen anderen Orten passierte. Wenn beispielsw­eise Karadžić während eines Kriegsrate­s mit dickem Filzstift auf einer Karte Bosnien-Herzegowin­as herumschmi­ert und jene Städte und Täler markiert, die er in Verhandlun­gen unbedingt für sich beanspruch­e, bei den Tälern entlang des Flusses Sava meint, über die könne man verhandeln, worauf ihm sein Militärche­f Ratko Mladić scharf ins Wort fällt: „Über die Sava wird nicht verhandelt.“In dieser Szene wirkt Karadžić, der dann beschwicht­igend meint, „im politische­n Sinne“sei das denkbar, neben dem Schlächter Mladić beinahe wie ein Pragmatike­r. Der Film ist eine Perlenkett­e zeitgeschi­chtlicher Miniaturen: Karadžić am Feldtelefo­n in einer zerschosse­nen Seilbahngo­ndel auf einem Hügel über Sarajewo, Relikt der Olympische­n Spiele nur acht Jahre zuvor; beim Mantelkauf in Genf; und beim Besuch seiner Mutter, die auf die rhetorisch­e Frage, welche Mutter ihren Sohn ins Land schicken würde, um für einen moslemisch­en Staat auf dem Balkan zu sterben, antwortet: „Niemand fragt die Mütter.“

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