„Entwicklung der Schulden bereitet uns Sorgen“
Interview. Kommissar Paolo Gentiloni sieht in EU-Schulden ein Modell für künftige Herausforderungen.
Die EU-Mitglieder sind heute höher verschuldet als vor Corona. Ein Grund zur Sorge?
Paolo Gentiloni: Natürlich bereitet uns das hohe Schuldenniveau Sorgen. Während der Pandemie sind die Schulden stark gestiegen, besonders in der Eurozone. Nun sinken sie wieder, aber nicht besonders schnell. Wir ermutigen Länder mit hoher Verschuldung, neue laufende Ausgaben zu vermeiden, die eine dauerhafte Belastung darstellen könnten.
Haben Sie in der Konjunkturprognose berücksichtigt, dass die Europäische Zentralbank bald die Zinsen anheben könnte?
Wir spekulieren in der Prognose nicht über die zukünftige Geldpolitik. Aber wir berücksichtigen natürlich Erwartungen über die Zinsentwicklungen, soweit sie sich Ende April aus den Markterwartungen wie zum Beispiel FuturesVerträgen ablesen lassen. Insofern ist auch das Ölembargo nicht Teil der Prognose, weil es leider noch nicht beschlossen ist. Die Markterwartungen sind in der Prognose aber eingepreist, sowohl, was die Geldpolitik betrifft, als auch, was das Embargo betrifft.
Eine neue Schuldenkrise droht also nicht?
Nein, die realen Zinsen werden auf absehbare Zeit sowohl für mittelfristige wie auch langfristige Staatsanleihen negativ bleiben. Hoch verschuldete Staaten begeben zudem oft sehr langfristige Staatsanleihen. Das Bankensystem ist viel robuster als vor zehn oder 15 Jahren. Aber wie gesagt: Das heißt nicht, dass wir das Schuldenniveau in Europa nicht mit Sorge sehen. Deshalb empfehlen wir auch für 2023 eine weitestgehend
ausgeglichene Haushaltspolitik. Vor allem höher verschuldete Staaten sollten lieber Geld aus dem Wiederaufbaufonds verwenden, anstatt neue Schulden aufzunehmen.
Derzeit gelten Ausnahmen bei den Schuldenregeln. Werden die verlängert?
Das werde ich Ihnen hier und jetzt nicht sagen, wir verkünden das nämlich nächste Woche. Sie kennen ja alle relevanten Faktoren und können sich selbst ein Urteil bilden.
ZUR PERSON
Paolo Gentiloni ist seit 2019 europäischer Kommissar für Wirtschaft und Währung. Von 2016 bis 2018 war der Vertreter des Partito Democratico italienischer Premierminister. „Die Presse“hat den 67-Jährigen gemeinsam mit der „Welt“, „Les Echos“, „El Mundo“und der Nachrichtenagentur Lusa interviewt.
Verschuldete Länder sollen Geld aus dem Wiederaufbaufonds verwenden, der wurde ja auch mit gemeinsamen Schulden befüllt. Kommt jetzt die Schuldenunion?
Bis jetzt war der Fonds ein großer Erfolg. 24 nationale Pläne wurden bereits abgesegnet, es fehlen aus unterschiedlichen Gründen noch Polen, Ungarn und die Niederlande. Bis jetzt haben die Länder Fristen und Verpflichtungen eingehalten. Wobei wir natürlich ganz genau kontrollieren werden, ob die Gelder auch weiterhin entsprechend den Plänen eingesetzt werden. Das heißt aber nicht, dass der Fonds jetzt ein permanentes Instrument wird. Ich bin dafür, auch künftig gemeinsame Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Der Fonds ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir gemeinsame Ziele erreichen können.
Wäre der Aufbau der Ukraine so ein Ziel, für das die EU sich erneut verschulden könnte?
Ja, ein ähnliches Modell könnte für die Ukraine verwendet werden, aber die Kommission wird nicht gemeinsame Schulden dafür vorschlagen. Diese Woche werden wir eine Reihe von Grundsätzen und Ideen darlegen. Gemeinsame Schulden sind eine Möglichkeit von vielen, um Hilfen für die Ukraine zu finanzieren. Derzeit feilen wir an kurzfristigen Hilfen für die Ukraine, die laufend ihre Kosten decken muss. Über einen konkreten Wiederaufbauplan können wir hoffentlich auch bald sprechen. Aber auch da wird die Kommission keinen Vorschlag machen, das muss gemeinsam mit internationalen Partnern und vor allem gemeinsam mit den Vertretern der Ukraine besprochen und entschieden werden.
Die Inflation ist hoch, das Wachstum gering, die Unsicherheit riesig. Aber der Klimawandel schreitet rasant voran. Kommt aus den Mitgliedsländern
Druck, bei den Klimazielen zumindest kurzfristig etwas zurückzustecken?
Die Unabhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen ist jetzt eine gemeinsame Priorität der Union. Wie Mitgliedstaaten diese Unabhängigkeit erreichen, beruht auf nationalen Entscheidungen. Was wir derzeit tatsächlich diskutieren, ist die „No significant harm“-Klausel im Zusammenhang mit Geld aus dem Wiederaufbaufonds. Aber da geht es vor allem um Details. Zum Beispiel finanziert der Wiederaufbaufonds bereits Regasifizierungsanlagen (wandeln flüssiges in gasförmiges Gas um, Anm.), allerdings unter sehr strengen Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen könnten noch einmal verhandelt werden.
Noch prognostizieren Sie Wachstum für das laufende Jahr. Aber wie belastbar ist die Prognose?
Wir haben auch zwei negative Szenarien berechnet. In einem steigen die Energiepreise weiter. Im anderen kommt es zu Versorgungsengpässen, vor allem bei Gas. In den beiden pessimistischen Szenarien ist das Wirtschaftswachstum in Europa heuer deutlich geringer, die Inflation würde steigen. Im Fall eines Gaslieferstopps rechnen wir mit 2,5 Prozentpunkten weniger Wachstum 2022 und mit einem Prozentpunkt weniger im nächsten Jahr. Die Inflation würde heuer um drei Prozentpunkte steigen und nächstes Jahr um mehr als einen.
Droht der EU also auch im schlimmsten Fall keine Rezession?
Das Wachstum heuer ist noch immer stark vom Corona-Rebound aus dem vergangenen Jahr getrieben. Aber wir sehen gerade höchst unsichere Zeiten. Auch der weitere Kriegsverlauf wirkt sich auf die europäische Wirtschaft aus. Hier gibt es Unsicherheiten, die in der Prognose gar nicht berücksichtigt wurden. Was wir in den negativen Szenarien erwarten, sind Rezessionen in einigen Mitgliedstaaten in einzelnen Quartalen. Aber ganz ausgeschlossen ist eine allgemeine Rezession nicht.
Erwarten Sie, dass eine LohnPreis-Spirale einsetzt?
Ich erwarte, dass die Kaufkraft heuer sinken wird.