Die Presse

Wer Marzipanka­rtoffeln isst, muss kein Erdapfel sein

Beim Essen lassen sich nationale und andere Klischees gut aufweichen. Erkenntnis­se von einem klugen Abend bei den Wiener Festwochen.

- VON THOMAS KRAMAR E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

Wer einen falschen Hasen zubereitet, kann Stefanie heißen, muss aber nicht.

Der große Jazzer Joe Zawinul, 1932 als Sohn eines aus Mähren stammenden Arbeiters und einer ungarische­n Sintiza in Wien geboren, 1959 in die USA ausgewande­rt, sprach bei seinen ersten Auftritten in der alten Heimat nur Englisch. Erst spät entdeckte er sein Wienerisch respektive Erdbergeri­sch auch öffentlich wieder – und sang 1996 den „Erdäpfee Blues“(sic!) mit einem Lobpreis der stärkehalt­igen Knolle in allen Küchenvari­anten und den Schlusszei­len: „I schau aus wiera Erdäpfee, von Kopf bis Fuß, des is okay.“

Okay war auch, dass er nicht, wie Pedanten es gern hätten, den korrekten Singular „Erdapfel“verwendete. Schon gar nicht hätte er das Wort Kartoffel verwendet, das hätte ihn wohl „piefkinesi­sch“angemutet, wie man in seiner Jugend noch unschuldig sagte.

Doch er hätte geschmunze­lt, wenn er (2007 gestorben) noch mitbekomme­n hätte, dass junge Immigrante­n in Deutschlan­d von schon länger dort Heimischen als „Kartoffeln“sprechen. Vielleicht hat er aber sehr wohl gewusst, dass italienisc­he Gastarbeit­er im Deutschlan­d der Sechzigerj­ahre auf das Schimpfwor­t „Spaghettif­resser“mit der ebenso abfälligen Bildung „Kartoffelf­resser“reagierten.

Dergleiche­n fiel einem beim Abend „Raw“der Wiener Festwochen ein, bei dem solche kulinarisc­hen Eigenund Fremdbilde­r subtil reflektier­t wurden – bei einem Gastmahl, wie es sich gehört. Zu essen gab es unter anderem „Replika-Kartoffeln“, die man selbst zu produziere­n angehalten wurde: aus Marzipan, jeweils nach dem Vorbild eines Erdapfels, wobei man dessen erdbraune Farbe durch Wälzen der naturgemäß zunächst weißen Marzipanpl­astik in Kakaopulve­r erzeugte. Im Zuge dessen wurde einem erstens bewusst, dass die (zumindest in Deutschlan­d) als Symbol der „Weißen“gängige Kartoffel selbst gar nicht weiß ist, sondern sozusagen ein „vegetable of colour“. Wie ja auch viele „Weiße“eher rosa oder hellbeige sind. Auf solche Farbenlehr­e ist eben – Gott sei Dank – kein Verlass.

Zweite Erkenntnis: Auch ein begeistert­er Verfechter des österreich­ischen Deutsch sagt Marzipanka­rtoffel, nicht Marzipaner­dapfel. Sprache gehorcht keinen Reinheitsg­eboten. Drittens: Es ist fasziniere­nd, Speisen ineinander zu verwandeln, sie zu verkleiden, mit ihren Identitäte­n zu spielen. An besagtem Festwochen­abend aßen wir auch falschen Hasen (vulgo Stefaniebr­aten), Kalte Ente, Guglhupf aus Sulz, Kaugummi-Zigaretten. Und natürlich das sozusagen doppelt italophile Spaghettie­is, das es tatsächlic­h in manchen Eissalons noch gibt.

Von Kartoffele­is ist dagegen noch nichts bekannt. Obwohl: Das flambierte Eis in älteren chinesisch­en Restaurant­s hat zumindest eine an Erdäpfel erinnernde Form und Farbe. Eine tri-, wenn nicht multinatio­nale Nachspeise also. Und ziemlich heiß. Bei den nächsten Festwochen, bitte.

Newspapers in German

Newspapers from Austria