Wer Marzipankartoffeln isst, muss kein Erdapfel sein
Beim Essen lassen sich nationale und andere Klischees gut aufweichen. Erkenntnisse von einem klugen Abend bei den Wiener Festwochen.
Wer einen falschen Hasen zubereitet, kann Stefanie heißen, muss aber nicht.
Der große Jazzer Joe Zawinul, 1932 als Sohn eines aus Mähren stammenden Arbeiters und einer ungarischen Sintiza in Wien geboren, 1959 in die USA ausgewandert, sprach bei seinen ersten Auftritten in der alten Heimat nur Englisch. Erst spät entdeckte er sein Wienerisch respektive Erdbergerisch auch öffentlich wieder – und sang 1996 den „Erdäpfee Blues“(sic!) mit einem Lobpreis der stärkehaltigen Knolle in allen Küchenvarianten und den Schlusszeilen: „I schau aus wiera Erdäpfee, von Kopf bis Fuß, des is okay.“
Okay war auch, dass er nicht, wie Pedanten es gern hätten, den korrekten Singular „Erdapfel“verwendete. Schon gar nicht hätte er das Wort Kartoffel verwendet, das hätte ihn wohl „piefkinesisch“angemutet, wie man in seiner Jugend noch unschuldig sagte.
Doch er hätte geschmunzelt, wenn er (2007 gestorben) noch mitbekommen hätte, dass junge Immigranten in Deutschland von schon länger dort Heimischen als „Kartoffeln“sprechen. Vielleicht hat er aber sehr wohl gewusst, dass italienische Gastarbeiter im Deutschland der Sechzigerjahre auf das Schimpfwort „Spaghettifresser“mit der ebenso abfälligen Bildung „Kartoffelfresser“reagierten.
Dergleichen fiel einem beim Abend „Raw“der Wiener Festwochen ein, bei dem solche kulinarischen Eigenund Fremdbilder subtil reflektiert wurden – bei einem Gastmahl, wie es sich gehört. Zu essen gab es unter anderem „Replika-Kartoffeln“, die man selbst zu produzieren angehalten wurde: aus Marzipan, jeweils nach dem Vorbild eines Erdapfels, wobei man dessen erdbraune Farbe durch Wälzen der naturgemäß zunächst weißen Marzipanplastik in Kakaopulver erzeugte. Im Zuge dessen wurde einem erstens bewusst, dass die (zumindest in Deutschland) als Symbol der „Weißen“gängige Kartoffel selbst gar nicht weiß ist, sondern sozusagen ein „vegetable of colour“. Wie ja auch viele „Weiße“eher rosa oder hellbeige sind. Auf solche Farbenlehre ist eben – Gott sei Dank – kein Verlass.
Zweite Erkenntnis: Auch ein begeisterter Verfechter des österreichischen Deutsch sagt Marzipankartoffel, nicht Marzipanerdapfel. Sprache gehorcht keinen Reinheitsgeboten. Drittens: Es ist faszinierend, Speisen ineinander zu verwandeln, sie zu verkleiden, mit ihren Identitäten zu spielen. An besagtem Festwochenabend aßen wir auch falschen Hasen (vulgo Stefaniebraten), Kalte Ente, Guglhupf aus Sulz, Kaugummi-Zigaretten. Und natürlich das sozusagen doppelt italophile Spaghettieis, das es tatsächlich in manchen Eissalons noch gibt.
Von Kartoffeleis ist dagegen noch nichts bekannt. Obwohl: Das flambierte Eis in älteren chinesischen Restaurants hat zumindest eine an Erdäpfel erinnernde Form und Farbe. Eine tri-, wenn nicht multinationale Nachspeise also. Und ziemlich heiß. Bei den nächsten Festwochen, bitte.