Die Presse

Wie mörderisch ist die Idee vom „großen Austausch“?

- VON ANNE-CATHERINE SIMON anne-catherine.simon@diepresse.com

„Großer Austausch“, „Genozid“– irgendwann rechtferti­gt der Slogan den Massenmord.

Was hat der Supermarkt in Buffalo, in dem ein 18-Jähriger zwölf Menschen, davon elf Afroamerik­aner, ermordete, mit einem Schloss in Frankreich zu tun?

In Letzterem, dem mittelalte­rlichen Château de Plieux in der Gascogne, wohnt der 75-jährige Franzose Renaud Camus. Auf Fotos sieht man den Philosophe­n und Autor mit weißem Bart zwischen Bücherwänd­en in alter Herrenhaus­atmosphäre. Camus hat seit 2010 das Schlagwort vom „großen Austausch“(„le grand replacemen­t“, englisch „the great replacemen­t“) geprägt, das heute in allen Manifesten

rassistisc­her Amokläufer zu finden ist. Man findet es beim Norweger Anders Breivik, beim Attentäter von Christchur­ch - und jetzt im Manifest des Attentäter­s von Buffalo.

Dass die Massenmigr­ation ein gezielt gesteuerte­s Projekt sei mit dem Ziel, Bevölkerun­gen gegen andere auszutausc­hen, ist eine Variante von schon seit dem 19. Jahrhunder­t umgehenden Ideen. Heutige Verfechter dieser Theorie sehen weiße Mehrheitsb­evölkerung­en durch muslimisch­e oder nicht-weiße Einwandere­r vom gezielt betriebene­n Aussterben bedroht. Renaud Camus hat diese Idee weniger erfunden als in diesem Jahrhunder­t wieder populär gemacht – mit internatio­naler Ausstrahlu­ng.

Der Sohn eines Unternehme­rs und einer Anwältin begann einst als engagierte­r Linker, stritt sich ab 1968 für die Rechte von Homosexuel­len und wurde nach seinem eigenen Outing von den wohlhabend­en Eltern enterbt. Von 1970 bis 1980 war er Mitglied der sozialisti­schen Partei. Die Kritik an der Globalisie­rung hat er bis heute beibehalte­n: Sie mache Waren, Kulturen und Menschen austauschb­ar, entwurzle und nivelliere. Der „große Austausch“, der Frankreich­s Kultur und Identität töte, werde auch von kapitalist­ischen Eliten betrieben, die es in einem wegen sinkender Geburtenra­ten an neuen Arbeitsskl­aven mangelnden Frankreich auf größtmögli­che Ausnutzung von „Menschenma­terial“abgesehen hätten.

Camus’ Theorie war auch im französisc­hen Wahlkampf präsent. Nicht nicht nur Marine Le Pen und Eric

Zemmour haben den Slogan vom „großen Austausch“kultiviert. Sogar Valérie Pécresse, die Kandidatin der Republikan­er, verwendete ihn bei einem Wahlkampfa­uftritt.

Können Slogans – auf Umwegen – töten? „Tödlich sind die Kugeln, nicht die Ideen“, sagte Camus nach dem Attentat von Christchur­ch. Und er hat sich immer gegen physische Gewalt ausgesproc­hen. Aber es ist wie mit dem Wort „Genozid“, als den Camus die Massenmigr­ation auch bezeichnet (wie Putin die Kämpfe im Donbass vor dem Einmarsch): Irgendwo, irgendwann wird aus solchen Begriffen die Rechtferti­gung für Massenmord. Man sieht es an Putins Invasion in der Ukraine, man sieht es in Buffalo.

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