Wie mörderisch ist die Idee vom „großen Austausch“?
„Großer Austausch“, „Genozid“– irgendwann rechtfertigt der Slogan den Massenmord.
Was hat der Supermarkt in Buffalo, in dem ein 18-Jähriger zwölf Menschen, davon elf Afroamerikaner, ermordete, mit einem Schloss in Frankreich zu tun?
In Letzterem, dem mittelalterlichen Château de Plieux in der Gascogne, wohnt der 75-jährige Franzose Renaud Camus. Auf Fotos sieht man den Philosophen und Autor mit weißem Bart zwischen Bücherwänden in alter Herrenhausatmosphäre. Camus hat seit 2010 das Schlagwort vom „großen Austausch“(„le grand replacement“, englisch „the great replacement“) geprägt, das heute in allen Manifesten
rassistischer Amokläufer zu finden ist. Man findet es beim Norweger Anders Breivik, beim Attentäter von Christchurch - und jetzt im Manifest des Attentäters von Buffalo.
Dass die Massenmigration ein gezielt gesteuertes Projekt sei mit dem Ziel, Bevölkerungen gegen andere auszutauschen, ist eine Variante von schon seit dem 19. Jahrhundert umgehenden Ideen. Heutige Verfechter dieser Theorie sehen weiße Mehrheitsbevölkerungen durch muslimische oder nicht-weiße Einwanderer vom gezielt betriebenen Aussterben bedroht. Renaud Camus hat diese Idee weniger erfunden als in diesem Jahrhundert wieder populär gemacht – mit internationaler Ausstrahlung.
Der Sohn eines Unternehmers und einer Anwältin begann einst als engagierter Linker, stritt sich ab 1968 für die Rechte von Homosexuellen und wurde nach seinem eigenen Outing von den wohlhabenden Eltern enterbt. Von 1970 bis 1980 war er Mitglied der sozialistischen Partei. Die Kritik an der Globalisierung hat er bis heute beibehalten: Sie mache Waren, Kulturen und Menschen austauschbar, entwurzle und nivelliere. Der „große Austausch“, der Frankreichs Kultur und Identität töte, werde auch von kapitalistischen Eliten betrieben, die es in einem wegen sinkender Geburtenraten an neuen Arbeitssklaven mangelnden Frankreich auf größtmögliche Ausnutzung von „Menschenmaterial“abgesehen hätten.
Camus’ Theorie war auch im französischen Wahlkampf präsent. Nicht nicht nur Marine Le Pen und Eric
Zemmour haben den Slogan vom „großen Austausch“kultiviert. Sogar Valérie Pécresse, die Kandidatin der Republikaner, verwendete ihn bei einem Wahlkampfauftritt.
Können Slogans – auf Umwegen – töten? „Tödlich sind die Kugeln, nicht die Ideen“, sagte Camus nach dem Attentat von Christchurch. Und er hat sich immer gegen physische Gewalt ausgesprochen. Aber es ist wie mit dem Wort „Genozid“, als den Camus die Massenmigration auch bezeichnet (wie Putin die Kämpfe im Donbass vor dem Einmarsch): Irgendwo, irgendwann wird aus solchen Begriffen die Rechtfertigung für Massenmord. Man sieht es an Putins Invasion in der Ukraine, man sieht es in Buffalo.