Die verhängnisvolle Abkehr vom Pazifismus
Gastkommentar. In der jetzigen Diskussion über den Krieg in der Ukraine wird von vielen Seiten militärische Gewalt als einziges Mittel zur Beendigung des Schlachtens dargestellt. Aber es gäbe auch anderweitige Optionen für einen Frieden.
Ein sonst lethargischer deutscher Bundeskanzler ruft lautstark nichtmilitärische Optionen im Ukraine-Krieg als anachronistische und zynische Idiotie aus. Gleichzeitig vollziehen viele Spitzenpolitiker der Grünen in Österreich und Deutschland eine öffentliche und vehemente Abkehr vom Pazifismus. In der gegenwärtigen öffentlichen Debatte scheint alles andere als eine militärische Beendigung des UkraineKrieges als naiv, kurzsichtig und rücksichtslos abgetan zu werden.
Ich will ein paar kritische Gedanken zur radikalisierten öffentlichen Debatte über mögliche internationale Antworten auf diesen Krieg beschreiben und die eine oder andere friedenspolitische Option skizzieren.
. . . dann schlagen wir zurück
Auf Befehl von Wladimir Putin überfällt die russische Armee die Ukraine und hat als Ziel den Sturz der Regierung in Kiew – ein klarer Fall des Bruchs des völkerrechtlich kodifizierten Gewaltverbots. Was man von Putin immer schon vermutet hat, scheint jetzt Gewissheit: Um seine eigene Macht auf dem Rücken der Wiederauferstehung eines respektierten und gefürchteten russischen Weltreichs zu vergrößern, schreckt er nicht davor zurück, friedliche Nachbarn zu überfallen und dabei das Völkerrecht mit den Füßen zu treten.
Schon heißt es, die wirre Weltund Wahnvorstellung Putins würde uns geopolitisch etwa 100 Jahre zurückwerfen und die moderne, liberale internationale Ordnung obsolet machen. Dementsprechend fällt die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft aus: Wenn der uns ins Gesicht schlägt, dann schlagen wir zurück. Putin verstehe nur Gewalt, weshalb auch nur Gewalt die Antwort sein könne.
US-Präsident Joe Biden mimt den Kalten Krieger und schleudert Putin eine Menge moralischer Verachtung entgegen – wie auch viele internationale und deutschsprachige Qualitätsmedien. Jegliche öffentliche (und oft auch private) Kritik an der eingleisigen internationalen Strategie zur Beendigung des Krieges wird als illusorisch, naiv, dumm oder gar als (den Ukrainern gegenüber) pietätlos beschimpft. In diesem Klima ist es wenig hilfreich, wenn sich grüne Politiker wie Annalena Baerbock vom Pazifismus lossagen und Werner Koglers Berater Peter Steyrer erklärt, er sei (die längste Zeit) Pazifist gewesen.
Doch gibt es sicherlich mehr Positionen zum Ukraine-Krieg als die radikale Ablehnung von Gewalt auf der einen Seite und ein euphorisches und triumphales Antreiben des bewaffneten Kampfes auf der anderen Seite. Man könnte etwa jahrelanges europäisches Versagen im Umgang mit Putin spätestens nach der Annexion der Krim konstatieren und zumindest nur kleinmütig die bewaffnete Verteidigung der Ukraine unterstützen.
Radikalisierung der Debatte
Gemessen an der Lautstärke der Entrüstung über die angeblich friedensverdorbene Weltblindheit ist eine zunehme Verengung und Radikalisierung der Debatte festzustellen. Besonders erstaunlich ist, wie viele Medien und Intellektuelle ohne Zögern eine Lanze für die militärische Option als einzig realistische Antwort auf die russische Aggression brechen. Das mag vieles sein, nur kritisch im Sinne einer genauen und eingehenden Abwägung der Lage ist es sicher nicht.
Erstaunlicherweise scheint fast allen diesen Stimmen die Entrüstung über den Bruch der internationalen liberalen Rechtsordnung gemein zu sein. Vergessen scheinen vergangene bewusste Brüche des Völkerrechts, wie etwa im Falle der Irak-Invasion. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass es dieses Mal nicht die Amerikaner und/ oder die Europäer waren, sondern Russland, mit einem unklaren Maß an Duldung oder Unterstützung durch China.
Das plötzliche Trauern um die liberale internationale Ordnung verwundert aus mindestens zwei Gründen: Zum einen wurden im Namen der liberalen Weltordnung wiederholt unrühmliche Maßnahmen gesetzt, wie etwa Staaten (willkürlich) zu schaffen, zu zerstören, Diktatoren einzusetzen, abzusetzen, zu ermorden oder Marktwirtschaften zu zerstören, neue zu schaffen und dann wieder zu zerstören – die freie Welt war für manche freier als für andere.
Zum anderen reden wir seit mindestens zwei Jahrzehnten vom eventuellen und baldigen Anbrechen einer multipolaren Welt. Jetzt scheinen sich die Indizien für eine solche Transition zu verdichten, trotzdem löst das Verwunderung bei vielen aus – was wiederum verwundert. Wir müssen die Tatsache akzeptieren, dass wir in einer zusehends multipolaren Welt leben, in der die liberale Weltordnung brüchig geworden ist – was im Sinne der Gerechtigkeit in vielerlei Hinsicht keine unbedingt beklagenswerten Folgen haben sollte.
Weltordnung mitgestalten
Das bedeutet nicht, wie immer kolportiert, dass die liberale internationale Ordnung obsolet ist – das Kooperationsabkommen zwischen China und Russland am Vorabend der Ukraine-Invasion argumentiert ausschließlich mit dem Völkerrecht und quasi-normativen internationalen Strategien wie nachhaltiger Entwicklung. Es bedeutet vielmehr, dass die Weltordnung keine natürliche ist. Anstatt Brüche des Völkerrechts zu konstatieren und sich moralisch darüber zu entrüsten, gilt es, die diplomatischen und zivilgesellschaftlichen Ärmel hochzukrempeln und sich an der Mitgestaltung einer zwar immer komplexer werdenden, aber doch gemeinsamen Welt zu beteiligen.
Für den Ukraine-Krieg könnte das zunächst bedeuten, die kriegerische Rhetorik etwas zurückzufahren. Sodann muss die EU mit den zunehmenden realpolitischen Anforderungen an sie schneller mitwachsen und zumindest außenpolitisch erwachen. Rechtlich darf sie als international-politischer Akteur auftreten, praktisch tut sie das nicht.
Aufwertung der OSZE
Das Argument des fehlenden Militärs ist äußerst begründungsbedürftig. Noch hat die Union keine konsequenten außenpolitischen Strategien erkennen lassen. Warum sollte sich das mit einer Militarisierung ändern? Auch Hunderttausende Kampftruppen könnten niemals so viel Wirksamkeit entfalten, wie dies eine diplomatisch und wirtschaftspolitisch entschlossene Union tun könnte.
Warum beispielsweise vollzieht Brüssel aufgrund der Weltlage nicht eine radikale energiepolitische Wende und ruft eine noch nie dagewesene Investition in die Förderung von Fotovoltaik aus? So stiege der Druck auf Putin, was wiederum neue nichtmilitärische und vor allem diplomatische Optionen eröffnen würde.
Eine durchaus realistische Option zur Beendung des Krieges ist eine Erklärung der Neutralität der Ukraine. Darauf sollten die diplomatischen Bemühungen ausgerichtet sein. Gleichzeitig könnte mit der OSZE ein Akteur ins Spiel gebracht werden, der historischideologisch nicht eindeutig antirussisch konnotiert ist wie die Nato. Es gäbe also durchaus plausible Optionen, die nichts mit militärischer Gewalt zu tun haben.
Aber solang die Debatte einseitig dominiert ist und emotional geführt wird, bleibt wenig Raum, um über anderweitige Optionen für einen Frieden nachzudenken.