Lisa Isola
Die Juristin erforscht, wie altes Recht in unsere heutige Gesetzgebung hineinwirkt. Verbotener Selbstwiderspruch und dingliche Einigung sind Beispiele ihrer Studien.
ch wollte mir einmal ansehen, wie man an der Harvard University arbeitet“, erzählt Lisa Isola vom Forschungsaufenthalt bei Boston, USA. Die Rechtswissenschaftlerin war schon an vielen Orten, um alte Gesetzestexte, Bücher und Forschungsartikel zu durchforsten, und Harvard war für sie Neuland anno 2013. „Ich bin in der Bibliothek gesessen und habe bemerkt, dass sich unsere europäischen Institute nicht verstecken müssen“, sagt Isola. In Harvard musste sie die gewünschten Bücher bestellen und irgendwo am Campus abholen. Da findet sie es am Wenger-Institut für Rechtsgeschichte in München, der Bibliothek für Römisches Recht in Rom und am MaxPlanck-Institut in Hamburg interessanter: „Dort sitzt man direkt zwischen den Büchern und nimmt sich, was man braucht.“
Die Kärntnerin wäre nach dem Studium gern an eine Elite-Uni ins Ausland gegangen, doch ein Gespräch mit dem damaligen Studienprogrammleiter der Uni Wien änderte alles. Mit dem Jus-Magisterium in der Tasche wollte sie bei Franz-Stefan Meissel „nur um ein Empfehlungsschreiben für Oxford oder Cambridge bitten“. Nach dem langen Gespräch über ihre Studienerfolge und Forschungsinteressen klingelte kurz danach das Handy: „Professor Meissel hat mich gefragt, ob ich vielleicht meine Pläne spontan über den Haufen werfen und mich um die bei ihm vakante Stelle bewerben möchte.“Isola bezeichnet es als Glücksfall, dass sie die Doktoratsstelle bekommen hat: „Ich bin am für mich perfekten Ort gelandet und habe Feuer für die Wissenschaft gefangen.“
Nun ist sie stolz, an der größten deutschsprachigen juristischen Fakultät zu arbeiten. Isola ist auch die erste Rechtswissenschaftlerin in Österreich, die vom Wissenschaftsfonds FWF sowohl eine Hertha-Firnberg
Förderung (für eine Postdoc-Stelle) als auch ein Elise-Richter-Projekt (für die Vorbereitung auf eine Professur) zugesprochen bekam. In ihren Forschungen kann sie genau das vereinen, was ihr schon in der Schulzeit Freude gemacht hat: Geschichte und Latein. „Griechisch habe ich erst im Studium dazugelernt. Wenn man ,nur‘ Latein kann, ist man auf ein em Auge blind, wenn man antike Rechtstexte studiert.“In der Dissertation nahm sich Isola eines sprichwörtlichen Rechtsprinzips an: Sie ging dem „Venire contra factum proprium“nach, wie eine berühmte Maxime lautet, die „widersprüchliches Verhalten“verbietet.
„Im Gesetz sucht man vergeblich nach so einem allgemeinen Verbot. Natürlich gibt es Situationen, in denen man es sich anders überlegen kann, ohne deswegen rechtswidrig zu handeln“, erzählt Isola und legte auf 515 Seiten offen, woher diese Regel kommt und wie seit den Römern, übers Mittelalter bis zum Heute damit umgegangen wird (erschienen in der Edition Peter Lang).
Im Hertha-Firnberg-Projekt erforschte Isola, wie und warum im klassischen römischen Recht letztwillige Verfügungen umgedeutet wurden. Immerhin wirk t dieses Testamentsrecht bis heute in zivilrechtliche Belange hinein: „Eigentlich ist fast alles, was als Instrumentarium, zum Beispiel auch für das Vertragsrecht, entwickelt wurde, ursprünglich vom Testament ausgegangen.“
Ab wann gilt etwas als mein Eigentum?
Die juristische Grundlagenforschung lässt Isola nicht mehr los: Schon während des Studiums oder nun als Lehrende sowie auf internationalen Konferenzen begegneten ihr immer wieder ungelöste Fragen. Aktuell, im Elise-Richter-Projekt,gehtesum„die,dingliche Einigung‘ im System kausaler Tradition“. Isola beschreibt, wie sich aus dem römischen Recht – der gemeinsamen Grundlage der verschiedenen europäischen Privatrechtssysteme – so unterschiedliche Konzepte entwickelten, wie Eigentum übertragen wird: durch den Abschluss eines Kaufvertrages oder durch die Übergabe des Gekauften?
Auf privater Ebene geht es ihr wie vielen Juristen: Sie bekommt manchmal Kauf- oder Mietverträge zu lesen, bevor ihre Familie sie unterschreibt. Als Vollzeit arbeitende Mutter von zwei Töchtern bleibt ihr wenig Zeit für Hobbys, aber eine Runde Joggen in den Weinbergen gelingt regelmäßig. „Und es gibt mir viel Energie, wenn ich mit meinem Mann ins Konzert oder die Oper gehe.“
JUNGE FORSCHUNG
Vieles, was als Instrumentarium – auch fürs Vertragsrecht – entwickelt wurde, ist ursprünglich vom Testament ausgegangen.
ZUR PERSON
LisaIsola (34) hat an der Uni Wien Rechtswissenschaften studiert, nebenbei in einer Anwaltskanzlei gearbeitet und war nach dem Dok toratan der Uni Wien mehrere Jahre Postdoc an der Uni Linz. Weitere Forschungsarbeiten führten sie u. a. nach Rom, Frankfurt, Hamburg und München. Im April 2022 wurde sie in die Junge Akademie der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gewählt.
diepresse.com/jungeforschung
Diogenes von Sinope soll sogar seine Trinkschale weggeworfen haben, als er einen Hirtenjungen aus der hohlen Hand trinken sah.
Von Robert Pfaller
er Titel von Léon Wurmsers großer Studie „Die Masken der Scham“bezeichnet eine scharfsinnige Erkenntnis: nämlich dass die Scham sich – wie es ihrem schamhaften Wesen entspricht – oft unter anderen Gestalten versteckt, die ihr als Maske dienen: So erscheint sie zum Beispiel als Kälte, Arroganz, Angeberei, Exhibitionismus oder auch Aggression. Wurmsers Erkenntnis hat wohl die Tür aufgestoßen zur Einsicht, wie oft die Scham im Alltagsleben anzutreffen ist und welche bedeutende Rolle sie darin spielt. So ist mit etwas Verspätung in den letzten Jahrzehnten, in der Nachfolge von Wurmsers Entdeckung und nach merkwürdig langem Schweigen der Theorie, eine umfangreiche Forschung und Literatur zum Thema entstanden.
Wurmsers Titel kann aber auch in die entgegengesetzte Richtung gelesen werden – im Sinn des „genitivus subiectivus“. Denn die Scham wird nicht nur oft von etwas anderem maskiert; sie ist vielmehr mitunter auch selbst eine Maske für etwas anderes. Dies ist die Gestalt, in der wir sie gegenwärtig vorwiegend beobachten können: als eine Maske, hinter der sich zum Beispiel ein gewisser Stolz verbirgt. Man ist stolz, dass man so viel Schamgefühl, so viel Sensibilität, Achtsamkeit und Sinn für das Peinliche besitzt; und darum trägt man seine Scham nun auch ähnlich selbstbewusst zur Schau wief rüher eine exklusive Armbanduhr oder eine teure Handtasche. Die Scham steht offenbar auch deshalb gegenwärtig so sehr im Rampenlicht, weil sie ein Luxusartikel geworden ist, ein Distinktionsgut. Sie schmückt jene Menschen, die sich so etwas Kostbares leisten können und sich dadurch als etwas Besseres zu erkennen geben möchten. Schließlich muss man schon einiges besitzen, um „Flugscham“empfinden zu können – im Vergleich etwa zu jenen nicht wenigen, die in ihrem Leben überhaupt noch nie in einem Flugzeug gereist sind. Auch „Autoscham“ist nur für jene Menschen erschwinglich, die so wohnen, dass sie leicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad ihre lebenswichtigen Wege erledigen können; ein Vorteil, über den die meisten ländlichen Pendler oder Bewohner von urbanen Außenbezirken leider nicht verfügen.
Die meisten aktuellen Formen von Scham, die in neuen Wortschöpfungen wie den eingangs genannten ihren Ausdruck finden, gehören zu diesem Typus eines – oft recht dünn – maskierten Stolzes. Auch in dieser Oberflächengestalt aber lohnt die Scham eine eingehendere Betrachtung. Denn auch sie liefert wertvolle Hinweise über das, was die Scham ausmacht und was von vielen bedeutenden Theorien regelmäßig verkannt wurde. Zwei große Irrtümer, deren Folgen immer gleich mehrere wissenschaftliche Disziplinen erfasst haben, sollen hier beleuchtet werden: (1) der Irrtum vom angeblich „außengeleiteten“Charakter der Scham (im Gegensatz zur „innengeleiteten“Schuld) sowie (2) der Irrtum, die Scham bestünde in einer vom Über-Ich ausgeübten Bestrafung des Ich für dessen Verfehlen eines Ideals. Bevor diese beiden Irrtümer dargestellt und kritisiert werden, soll ein kurzer Parcours die aktuellen, für die Gegenwart charakteristischen Gestalten der Scham veranschaulichen. Dabei sollen erste Indizien gesammelt werden, die bei der Aufhebung der beiden genannten, bis heute wirkmächtigen Irrtümer hilfreich sein könnten.
Ein großer Teil aktueller schamhafter Regungen bezieht sich auf das Gefühl, zu viel oder das Falsche zu konsumieren. Viele „less-is-more“-Initiativen lehren die Angehörigen oberer urbaner Mittelschichten, dass man, sofern man über gute Informationen und ein dichtes Netz an Sozialkontakten verfügt, viele Dinge, darunter auch Geld, nicht mehr im üblichen Ausmaß zu besitzen braucht – zum Beispiel, weil man sich den Besitz einer selten gebrauchten Bohrmaschine ja teilen, weil man manche benötigte Leistungen wie Massieren gegen andere Leistungen wie Spanischlernen tauschen, oder weil man benötigte Gebrauchsgegenstände wie Taschen oder Kleinmöbel durch „Upcycling“von Abfallmaterialien herstellen kann. Mit viel Hightech, guter Vernetzung und hochqualifiziertem Erfindungsgeist erm öglichen manche Kreativberufler sich derart ein Bild einfachen Lebens. Immerhin geben sie damit zu denken. Denn sie eröffnen auf diese Weise nicht zuletzt auch eine gewisse Perspektive auf ihre vermeintlichen Vorgänger in der Antike – wie etwa den legendären kynischen Philosophen Diogenes von Sinope, der im Fass gewohnt, ja sogar noch seine Trinkschale weggeworfen haben soll, als er einen Hirtenjungen aus der hohlen Hand trinken sah. Vielleicht waren ja schon die antiken Kyniker, die den Namen ihrer Schule von den Hunden bezogen, die sie sich zum Vorbild eines schlichten, scham- und vorurteilsbefreiten Lebens nahmen, nicht ganz so mittellos, wie sie ihre Umgebung sowie die Nachwelt glauben machen wollten, sondern schwammen gleichsam geschickt an der Oberfläche eines sie umgebenden urbanen Wohlstandes. Andererseits jedoch deuten manche der überlieferten Äußerungen doch in eine andere Richtung. So zum Beispiel zwei, die Diogenes von Sinope zugeschrieben werden:
„Als er einst auf dem Markte Onanie trieb, sagte er: ,Könnte man doch den Bauch auch ebenso reiben, um den Hunger los zu werden.‘“sowie „Als man ihm vorrückte, daß er auf dem Markte gegessen habe, sagte er: ,Habe ich doch auf dem Markte auch gehungert.‘“
Solche Belege dokumentieren Erfahrungen der Entbehrung, die den meisten heutigen Hipster-Lebenskünstlern doch recht fremd geblieben sein dürften.
Der Impuls, im Gegensatz vielleicht noch zu der einer Mangelwirtschaft entstammenden Eltern- oder Großelterngeneration, den eigenen Konsum kritisch und schamhaft zu überdenken und ihn „postmaterialistisch“einzuschränken, entstammt vor allem dem Programm der „mündigen Konsumenten“oder „prosumers“, die darauf abzielten, durch bewussten Konsum auf die Herstellungsbedingungen von Produkten Einfl usszunehmen.
Mit der Waffe des Einkaufskorbes
Als sich ab Mitte der 1980er-Jahre die politische Gestaltungskraft westlicher Staaten im Schwinden befand und diese nicht mehr in der Lage oder gewillt schienen, die großen Konzerne auch nur in den elementarsten Fragen zu lenken, entstand die Hoffnung, die Konsumenten könnten dies an ihrer Stelle leisten. Firmen, die zum Beispiel die Umwelt verschmutzten oder Minderjährige als Arbeitssklaven oder Kindersoldaten einsetzten, sollten mit der Waffe des Einkaufskorbes dafür bestraft werden. Freilich erwies diese Strategie sich bald als schwierig durchführbar, denn sie verlangte von den Konsumenten umfassendes Wissen über die gesamte Wertschöpfungskette sämtlicher von ihnen benötigter Güter (ein Wissen, das oft nicht einmal die jeweiligen Hersteller selbst besaßen). Außerdem entstanden Dilemmata hinsichtlich der politischen Prioritäten: Sollte zum Beispiel die Mode lieber „ethical“, also einwandfrei hinsichtlich der Behandlung der eingesetzt en Arbeitskräfte sein, oder aber lieber „ecological“, also möglichstumweltf reundlich hergestellt und nach Gebrauch wieder biologisch abbaubar? Zu allem Unglück waren auch diese Fragen selbst wieder bestimmten Moden unterworfen und von den Herstellern geschickt kommerzialisierbar. So konnte man zum Beispiel in bestimmten kalifornischen Modegeschäften eine Zeitlang keine Sportschuhe kaufen, ohne dass damit zugleich ein zweites Paar an ein afrikanisches Kind ging. Ob diese Kinder wirklich am dringendsten solche Sportschuhe benötigten, oder aber nicht doch eher Zugang zu