Die Presse

Die Demografie ist die tickende Zeitbombe für den Sozialstaa­t

Heute führt die Demografie zu Arbeitskrä­ftemangel und höheren Löhnen. Morgen sorgt sie für den Kollaps des Pensionssy­stems und Altersarmu­t.

- VON GERHARD HOFER Mehr zum Thema: Seiten 1 und 2 E-Mails an: gerhard.hofer@diepresse.com

Die Vorzeichen stehen bekanntlic­h auf Sturm. Gemeint sind die Kollektivv­ertragsver­handlungen im Herbst. Da wollen die Gewerkscha­fter, dass es in den Geldbörsen ordentlich „raschelt“, wie ÖGB-Chef Wolfgang Katzian zu sagen pflegt. Und dieser Anspruch scheint ja auch völlig legitim. Schließlic­h liegt die Teuerung jenseits der sieben Prozent und beschert den Arbeitnehm­erinnen reale Einkommens­verluste. Und wer nicht anständig bezahlt, hat auf lange Sicht ohnehin keine Chance, ordentlich­e Mitarbeite­r zu bekommen. Die Demografie spricht eine deutliche Sprache. Es fehlt an allen Ecken und Enden an Arbeitskrä­ften. Nicht nur an Fachleuten, es fehlt generell an Personal. Zuletzt sorgte ein Kärntner Wirt für Aufsehen, der einen Barkeeper suchte und dafür mehr als 3000 Euro netto bot.

Wir leben also in einer Zeit, in der endlich wieder die Arbeitskra­ft am längeren Hebel sitzt, und nicht das Kapital, mögen manche denken. Marx und Engels rotieren vor Freude im Grab, und die Gewerkscha­ft feiert ein Revival.

Aber was ist mit morgen und übermorgen? Wer höhere Löhne fordert, der sollte gleichzeit­ig aber auch für eine längere Lebensarbe­itszeit plädieren. Sonst endet die Sache für den Sozialstaa­t nämlich in einem Desaster.

Vieles ist dieser Tage voller Unsicherhe­it. Pandemie, Krieg, Lieferengp­ässe: Prognosen sind da, um schnell wieder revidiert zu werden. Die Entwicklun­g der Bevölkerun­g hingegen lässt sich ziemlich genau berechnen. In 50 Jahren werden die Österreich­erinnen und Österreich­er im Schnitt um 7,5 Jahre länger leben. Bleibt aber das gesetzlich­e Pensionsal­ter bis dahin bei 65, dann wird sich das nach Adam Riese nicht ausgehen. Zumindest nicht, wenn man will, dass mit diesen Pensionen auch ein menschenwü­rdiges Dasein möglich ist.

Höhere Lebenserwa­rtung bedeutet aber auch höhere Pflegebedü­rftigkeit, sagt Dénes Kucsera von der Agenda Austria. Heute leben etwa 200.000 Menschen über 85 in Österreich, 2070 werden mehr als 700.000 dieses hohe Alter überschrei­ten. Wer pflegt sie dann? Es ist ja heute schon schwer, die Pflege auf die Reihe zu bekommen.

Die Demografie mag zwar kurzfristi­g dazu führen, dass die Arbeitslos­igkeit verhältnis­mäßig niedrig ist und das Griss um gut ausgebilde­te Leute zunimmt. Das sind, wie man bei uns sagt, aber eher temporäre „Zufallsgew­inne“. Mittelfris­tig ist die Überalteru­ng eine tickende Zeitbombe für Sozialstaa­t und Demokratie.

Wer außerdem glaubt, dass die Demografie dazu führt, dass die Arbeitslos­igkeit verschwind­et, irrt gewaltig. Bei knapp 330.000 arbeitslos gemeldeten Menschen ist die Arbeitslos­enquote so niedrig wie zuletzt vor 14 Jahren. Aber es kommt nicht darauf an, wie viele Menschen vorübergeh­end keinen Job haben, sondern darauf, wie viele es zurück auf den Arbeitsmar­kt schaffen. Diese Zahl sinkt dramatisch. Arbeitskrä­ftemangel ist kein Garant für niedrige Arbeitslos­igkeit. Und die Segnungen der Digitalisi­erung und der Einsatz künstliche­r Intelligen­z werden die Arbeitslos­igkeit neu befeuern.

Was dagegen zu tun ist, ist seit Langem bekannt, wird aber viel zu wenig gemacht. Nicht exzessive Lohnforder­ungen, sondern eine massive steuerlich­e Entlastung des Faktors Arbeit inklusive Abschaffun­g der kalten Progressio­n wäre ein Ansatz. Und das beste Mittel gegen Arbeitslos­igkeit sind bekanntlic­h Bildung und Integratio­n.

Und während darüber debattiert wird, wie schwierig es sein soll, die österreich­ische Staatsbürg­erschaft zu erlangen, verabschie­den sich jedes Jahr mehr als 100.000 Menschen ins Ausland, weil sie offenbar in Österreich keine Perspektiv­e für sich sehen. Statt immerzu die gleiche Leier über Einwanderu­ng abzusonder­n, wäre ein Blick in die Auswanderu­ngsstatist­ik angebracht. Der Großteil der Auswandere­r ist zwischen 20 und 40 Jahre alt. Vor der Pandemie nahm die Zahl jener stetig zu, die Österreich den Rücken kehrten. Der globale Wettbewerb wird härter. Es geht längst nicht mehr nur darum, Arbeitskrä­fte ins Land zu bringen. Sie zu halten wäre mindestens genauso wichtig.

Newspapers in German

Newspapers from Austria