„Wir unterschätzen Russland permanent“
Der frühere Militärberater im deutschen Kanzleramt, Erich Vad, über „Putin-Versteher“-Vorwürfe, russische Erfolge und den „Verlierer Europa“.
Die Presse: SPD-Kanzler Olaf Scholz sagt: „Wladimir Putin hat alle seine strategischen Ziele verfehlt.“Hat er Recht?
Erich Vad: Nur mit Einschränkungen. Putins erstes Ziel war der Einmarsch in Kiew und der Sturz der Regierung. Das ist gescheitert. Seine anderen strategischen Ziele wird er erreichen.
Welche?
Russland kontrolliert die Küste des Asowschen Meers und des Schwarzen Meers bis Cherson. Es hat eine Landbrücke zur Krim errichtet. Ich rechne damit, dass es die restliche, strategisch wichtige Schwarzmeerküste samt Odessa einnehmen und eine Verbindung bis nach Transnistrien schaffen wird. Die Ukraine würde zum Rumpfstaat degenerieren ohne Zugang zum Meer. Der Handel läuft ja großteils über die Hafenstädte ab.
Nicht alle zeichnen das Bild so düster.
Russland wird permanent unterschätzt. Die PR der Ukrainer ist hervorragend. Zum Teil konnte man vor ein paar Tagen ja noch glauben, sie wären kurz davor, die Russen aus dem Land zu werfen. Aber das ist Wunschdenken. Die Russen bestimmen, wann und wo sie mit welchen Kräften zuschlagen. Sie haben die Luftherrschaft. Und sie stehen kurz davor, die Kämpfer in der Ostukraine einzukreisen. Das ist die Lage. Aber das sickert erst langsam durch.
Was Scholz vielleicht auch meint: Die Nato wird erweitert, Europas Energieversorgung derussifiziert und die russische Wirtschaft ramponiert: Das sieht nicht nach einem strategischen Triumph Putins aus.
Wenn man Strategie weiter fasst, stimmt das. Russlands geostrategische Lage hat sich verschlechtert. Die Nato ist so stark wie nie zuvor. Das ist auch Putins „Verdienst“. Aber in der Ukraine sieht die Lage anders aus.
Warum lehnen Sie dann die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ab?
Was jetzt verschickt würde, würde in dieser Phase des Kriegs nicht mehr helfen.
Der Krieg endet wohl auch nicht morgen.
Aber die Russen kontrollieren See und Luft. Von den Nato-Staaten sind es 1000 Kilometer bis an die Front. Glauben Sie, dass die Russen Züge mit deutschen Leopard-2-Panzern durch die Westukraine rollen lassen? Es geht auch nicht nur um Logistik. Es brauchte auch lange Ausbildungszeiten, eine technische Betreuung, Ersatzteileversorgung vor Ort. Die Vorstellung, dass die Ukraine in einer gepanzerten Gegenoffensive Russland aus dem Land wirft, ist sowieso reine Fiktion. Die Ukraine braucht eher andere Waffen.
Das sehen einige Experten anders. Auch Kiew pocht auf schwere Waffen.
Die Stärke der Ukrainer ist ihre beweglich geführte Verteidigung. Die Ukraine braucht vorrangig Kampfdrohnen, Panzer- und Flugabwehrwaffen, leicht gepanzerte Fahrzeuge.
Sie haben auch schon davor gewarnt, dass die Lieferung schwerer Waffen einen Dritten Weltkrieg auslösen könnte.
Das ist nicht passiert. Einen Weltkrieg gibt es nicht. Haben Sie sich getäuscht?
Nein. Moderne Kampfpanzer wie der amerikanische Abrams-Panzer oder der britische Challenger waren bisher nicht dabei.
Aber Artillerie und sowjetische Panzer.
Worum es mir geht: Wenn wir hochkomplexe Waffensysteme wie westliche Panzer oder Kampfjets liefern, dann müssten wir ihre Verlegung und ihren Einsatz mit Luftstreitkräften schützen können. Und das geht nur, wenn der Westen zur Kriegspartei wird, was wir politisch nicht wollen.
Sie haben am ersten Tag des Kriegs gesagt: „Militärisch ist die Sache gelaufen.“Es kam anders. Warum?
Ich habe anfangs den Widerstandswillen der Ukrainer und ihren nachrichtendienstlichen Informationsaustausch mit westlichen Diensten unterschätzt. Russland fehlte dadurch das nötige Überraschungsmoment für einen raschen Zugriff auf Kiew.
Sie halten die Lieferung von schweren Waffen für nutzlos und für einen potenziellen Weg in den Dritten Weltkrieg. Russlands Angriff auf ein Krankenhaus in Mariupol stellten Sie zuletzt als unbeabsichtigt dar. Verstehen Sie es, wenn Sie der ukrainische Botschafter in Deutschland als „Putin-Versteher forever“bezeichnet?
Das verstehe ich nicht. Der Botschafter ist ein guter politischer Agitator, aber ein schlechter Diplomat. Wir dürfen jetzt nicht reine Gesinnungsethik betreiben, die die Verantwortung für Europa hintanstellt. Der Weg in die Hölle war immer mit guten Vorsätzen gepflastert. Zu allen Zeiten.
Was folgt daraus?
Wir müssen der Ukraine helfen, auch mit Waffen. Aber wir dürfen nicht so dumm sein, uns in eine Situation treiben zu lassen, in der die Lage eskaliert, in der zum Beispiel die Verbraucher-, Energie- oder Lebensmittelpreise völlig aus dem Ruder laufen oder in der viele nicht mehr heizen können, weil Putin ihnen das Gas abgedreht hat. Das würde zu politischen Verwerfungen führen.
Verantwortungsethisch könnte man auch argumentieren, dass der Westen Russlands Preis für diesen Zivilisationsbruch in die Höhe treiben muss, um Nachahmer abzuschrecken und Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen.
Mit dem Wort Zivilisationsbruch wäre ich vorsichtig. Aber natürlich müssen wir Putin den Appetit auf mehr nehmen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Ukrainer diesen Krieg verlieren. Aber militärisch wird man Russland aus dem Donbass und aus der Krim nicht mehr herauskriegen.
An die Rückeroberung der Krim glaubt doch niemand.
Außenminister Sergej Lawrow hat beklagt, dass Kiew Maximalforderungen wie den Abzug
der Russen von der Krim und aus dem Donbass stellt. Auch einige deutsche Grünen-Politiker wollen den ultimativen Sieg. Das ist nicht machbar, außer die Ukraine verlegt sich auf Guerillataktiken, wie das in Afghanistan der Fall war, wo Mopedkrieger die modernste Armee der Welt besiegt haben. Aber der Preis wäre die Verwüstung der Ukraine und das Risiko einer nuklearen Eskalation. Das kann keiner wollen.
Aber was soll der Westen jetzt machen? Russland zeigt doch null Interesse an einer diplomatischen Lösung.
Die Italiener haben erste Überlegungen in Richtung Waffenstillstand ins Spiel gebracht. Eine Möglichkeit wäre ein Sonderstatus für den Donbass, wie ihn Südtirol in Italien hat.
Wenn Sie über den Schlachtfeldrand blicken: Wie verändert dieser Krieg die geopolitischen Kräfteverhältnisse?
Barack Obama hat die Russen einmal als Regionalmacht bezeichnet. Sie wollen zeigen, dass sie Weltmacht sind. Aber das hält Russland nicht durch. Es sieht auch demografisch nicht gut aus. Sie haben nur noch Gas, Öl und Nuklearwaffen. Es wird also darauf ankommen, den Abstieg Russlands zur Regionalmacht zu managen. Zurzeit treibt Europa Russland in die Arme Chinas. Europa ist auch ein Verlierer. Und die Ukraine.
Wer profitiert von Putins Krieg?
Die Akzeptanz der USA und die Stärke des von ihnen geführten westlichen Bündnisses waren noch nie so groß wie heute. Sie springen auch ein, was die Lieferung von Gas und Öl anbelangt, und zwar zu horrenden Preisen. Auch Indien ist Profiteur. Sie haben eine strategische Partnerschaft mit dem Westen, aber auch eine intensive Rüstungskooperation mit Russland und erhalten jetzt massenweise billiges Öl von dort.
SPD-Kanzler Olaf Scholz kündigte zusätzliche 100 Milliarden Euro für die marode Bundeswehr an. Hand aufs Herz: Glauben Sie an die „Zeitenwende“in Deutschland?
Es braucht eine dreifache Zeitenwende: Wir haben unsere Sicherheit aus den USA importiert, unsere Energie aus Russland. Und unser Wohlstand war stark von China abhängig. Wir müssen jetzt die Energie diversifizieren, unsere Wirtschaftsbeziehungen neu justieren und endlich anfangen, unsere Streitkräfte besser auszurüsten. Die Bundeswehr ist nicht einsatzbereit. 100 Milliarden Euro sind nur ein Anfang. Sie reichen nicht.
ZUR PERSON
Erich Vad (65) ist Brigadegeneral a. D. Von 2006 bis 2013 war er militärpolitischer Berater von Kanzlerin Angela Merkel. Diese Woche gastierte er im Global Neighbours Forum, wo in vertraulicher Runde die Lage in Europa, China und Asien diskutiert wird. Das GNF wurde heuer von Unternehmerin Jovanka Porsche, Ex-Kanzler Christian Kern und dem deutschen Ex-Vizekanzler Philipp Rösler gegründet.