Die Presse

Ungarn und Polen am Scheideweg

Polens Regierung zieht im Streit mit Brüssel um den Rechtsstaa­t vorläufig zurück. Dieser Pragmatism­us ist ihren bisherigen Bundesgeno­ssen in Ungarn fremd.

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Brüssel. Ungarns Ministerpr­äsident, Viktor Orbán, macht wenige Tage vor einem EU-Gipfeltref­fen sein Desinteres­se an einem sachorient­ierten Kompromiss um das Ölembargo gegen Russland deutlich. Am Freitag reiste er nach Paris zur unlängst erneut gescheiter­ten rechtsauto­ritären Präsidents­chaftskand­idatin Marine Le Pen, um mit ihr gegen die EU zu agitieren. „Die beiden Chefs sprachen über die Bedrohunge­n, vor denen Europa steht, den Krieg in der Ukraine und seine wirtschaft­lichen Folgen, den nie da gewesenen Anstieg der Preise und die fehlgeleit­ete Brüsseler Sanktionen­politik“, ließ Orbán seinen Sprecher Zoltán Ková cs mitteilen.

Die Isolation Orbáns innerhalb der Union vertieft sich im Lichte solcher Auftritte derart stark, dass manche Stimmen in Brüssel Ungarn bereits als verlorenen Fall bezeichnen. Denn weder gutes Zureden, wie es ab 2010 von den EUKommissi­onen unter den Präsidente­n José Manuel Barroso und anfänglich Jean-Claude Juncker geübt wurde, noch eine Serie an Vertragsve­rletzungsv­erfahren und auch nicht das Verfahren zum Entzug der Stimmrecht­e nach Artikel 7 des EU-Vertrags haben die Orbánisten zum Umdenken gebracht. Selbst die historisch­e Einleitung eines neuen Prozederes zum eventuelle­n Entzug von EUFörderun­gen – der Konditiona­litätsmech­anismus, der seit Jahresbegi­nn in Kraft ist und vom Gerichtsho­f der EU gegen Klagen Polens und Ungarns als rechtskonf­orm bestätigt wurde – kratzt Orbá n augenschei­nlich nicht.

Orba´n in Europa isoliert

Auf europäisch­er Ebene ist er nach mehr als einem Jahrzehnt fast komplett isoliert, wie das Treffen mit Le Pen in den Räumlichke­iten der ungarische­n Botschaft in Paris veranschau­lichte. Demgegenüb­er fährt die bisher weltanscha­ulich mit ihm verbündete polnische Regierung einen pragmatisc­heren Kurs. Auch sie ist seit Jahren in einem Streit um die Rechtsstaa­tlichkeit mit Brüssel verstrickt, auch sie hängt in einem (gleicherma­ßen stagnieren­den) Artikel-7-Verfahren, auch ihr drohte bis vor Kurzem der Verlust von Milliarden­beträgen aus dem Corona-Wiederaufb­aufonds der EU. Doch der starke Mann der Regierungs­partei, Vizeminist­erpräsiden­t Jarosław Kaczyn´ski, erkannte nun, dass 36 Milliarden Euro aus Brüssel in Zeiten drohender Rezession, galoppiere­nder Inflation und russischer Truppen an der Grenze wichtiger sind als ein ideologisc­her Kampf gegen Brüsseler und Luxemburge­r Windmühlen.

Am Donnerstag stimmte das Unterhaus des Parlaments, der Sejm, für ein Gesetz, das die Richter-Disziplina­rkammer des Obersten Gerichtsho­fs abschaffen würde. Diese ist laut EuGH-Urteil unionsrech­tswidrig, weil sie die polnischen Richter unter politische Kuratel stellt, und so hatte die Kommission ihre Abschaffun­g zu einer der Bedingunge­n für die Freigabe der Wiederaufb­aumilliard­en gemacht.

V on unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Von der Leyen nach Warschau

Von einer Lösung des Streits um den Rechtsstaa­t zu reden ist verfrüht. Der radikale Justizmini­ster, Zbigniew Ziobro, könnte dieses Gesetz in dem Moment, in dem das Geld aus Brüssel nach Warschau geflossen ist, beim Verfassung­stribunal anfechten. Und dieses ist mit PiS-Gefolgsleu­ten gleichgesc­haltet. Die polnische Symbolpoli­tik wirkt jedenfalls: Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen wird am Dienstag nach Warschau reisen, um die Beilegung des Konflikts zu verkünden. Dann fließt zwar noch nicht automatisc­h Geld aus dem Fonds. Doch zumindest ist die Gefahr abgewendet, dass Polen zu Jahresende einen Gutteil dieser 36 Milliarden Euro ersatzlos verliert.

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[AFP] Ungarns Ministerpr­äsident, Viktor Orba´n, traf Marine Le Pen in Paris.

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