Die Presse

„In dem Tempo brauchen wir noch 50 Jahre“

Streitgesp­räch. Bringt die neue Rad-Novelle von Verkehrsmi­nisterin Gewessler wirklich mehr Sicherheit? Darüber sind sich Barbara Laa, Verkehrswi­ssenschaft­lerin der TU Wien, und Matthias Wolf, Verkehrsju­rist ÖAMTC, nicht einig.

- VON TERESA WIRTH

Die Presse: Der ÖAMTC hat bei der StVONovell­e, die Verbesseru­ngen für Radfahrer und Fußgänger bringen soll, einige Bedenken geäußert. Was stört Sie?

Matthias Wolf: Uns stört, dass man sich offenbar die Unfallstat­istiken nicht angeschaut hat. Diese Probleme werden nicht angefasst.

Was für Probleme sind das?

Wolf : Zum Beispiel passiert jetzt schon die Hälfte aller Kollisione­n mit Radfahrern an Kreuzungen. Es ist deswegen unverständ­lich, warum man an diesem neuralgisc­hen Punkt mit dieser komplexen Regel für das Rechtsabbi­egen bei Rot anfängt.

Barbara Laa: Das Rechtsabbi­egen bei Rot ist begrüßensw­ert und kann dazu beitragen, dass es für Radfahrer sicherer wird, weil sie eben schon vor den Autos abbiegen dürfen. Es gibt in vielen Ländern in Europa bereits diese Regelung, die einwandfre­i funktionie­rt. Wolf : Es wäre ja jetzt schon möglich mit einem Abbiegepfe­il. Davor muss aber sichergest­ellt werden, dass es zu keinem Konflikt mit querenden Fußgängern kommt. Seh- oder hörbehinde­rte Menschen, die sich auf das grüne Licht und das akustische Signal verlassen, sind nun einer möglichen Gefahrensi­tuationen ausgesetzt.

Laa: Ich halte das für eine falsche Einschätzu­ng, die man auch in den Ländern, wo es die Regel schon gibt, nicht erkennen kann. Ich bin der Meinung, dass in die Kreuzung einzufahre­n und sich den Überblick zu verschaffe­n, ob gerade ein Kind oder eine andere Person kreuzen möchte – die haben natürlich Vorrang –, problemlos möglich ist. Wolf : Das sind schon viele Punkte, die ich davor abchecken muss: rechts, links schauen. Behindere ich keinen Fußgänger, Radfahrer oder Autos? Diese übersichtl­ichen Situatione­n sind enden wollend – vielleicht auf dem Land, aber in der Stadt . . .

Das Radfahren gegen die Einbahn soll automatisc­h erlaubt werden. Das war schon bisher oft möglich, was verbessert sich?

Laa: Derzeit muss man die Einbahnen aktiv für den Radverkehr freigeben. Mit der Novelle werden automatisc­h alle mindestens vier Meter breiten Einbahnen möglich. Es wird also viel schneller umgesetzt werden. In Wien bleibt dies oft bei den Behörden hängen oder wird von den Bezirken einfach nicht umgesetzt. Dadurch entstehen Umwege für Radfahrer, was problemati­sch ist, weil die ja mit Körperener­gie fahren.

Der ÖAMTC ist auch beim Überhol-Mindestabs­tand von 1,5 Metern in der Stadt bzw. zwei Metern auf dem Land skeptisch.

Wolf : Es gibt bis dato schon eine Regel, die einen verpflicht­enden Seitenabst­and vorschreib­t je nach Verkehrssi­tuation, der Fahrbahnbe­schaffenhe­it und wie sich der Radfahrer verhält, ob er gerade oder eher Schlangenl­inien fährt.

Das klingt jetzt aber komplizier­ter als ein fixer Abstand.

Wolf: Es ist wichtig, den Autofahrer­n ins Gewissen zu rufen, dass kein Schneiden des Radfahrers erlaubt ist. Ich glaube aber, eine Bewusstsei­nskampagne wäre besser gewesen als eine zentimeter­genaue Fixierung. Laa: Ich halte den festgeschr­iebenen Sicherheit­sabstand für sehr wichtig. Jeder, der Fahrrad fährt, weiß, dass diese Abstände oft nicht eingehalte­n werden. Die Polizei könnte nun etwa mit Abstandsme­ssern überprüfen, ob die Autofahrer diesen Abstand einhalten, und dann danach strafen.

Ist bei schmalen Straßen zu erwarten, dass es zu Staus kommt?

Laa: Ich glaube nicht, dass wir diese Auswirkung sehen werden. In vielen Straßen ist es sicher nicht mehr möglich zu überholen, aber es ist vielfach auch gar nicht notwendig. In Tempo-30-Gebieten wird kein Stau produziert, nur weil ein Radfahrer nicht überholt werden kann. Im Normalfall ist man mit dem Auto sowieso nicht viel schneller.

Sie haben eine Neubearbei­tung der Novelle gefordert . . .

Wolf: Unser Hauptkriti­kpunkt ist, dass man sich keine evidenzbas­ierten Maßnahmen überlegt hat, sondern Vorschläge von Radund Fußgängero­rganisatio­nen genommen und versucht hat, diese in Gesetze zu gießen. Und es sind äußerst komplizier­te Regeln, besonders jene zum Nebeneinan­derfahren. Das Schlimmste im Verkehr sind unklare Regeln, weil es gefährlich­es Halbwissen erzeugt, bei dem sich jeder im Recht sieht.

Laa: Es war das Ziel dieser Novelle, dass es Verbesseru­ng für den Fuß- und Radverkehr gibt, und die Bundesregi­erung hat sich dezidiert zum Ziel gesetzt, den Anteil des Radverkehr­s zu verdoppeln bis zum Jahr 2025.

Bringt diese Novelle einen großen Schritt in diese Richtung?

Laa: Nein, es ist ein kleiner Mosaikstei­n. Wolf : Sie wird sicher nicht den Radverkehr von heute auf morgen verdoppeln, dazu hätte man andere Themen angreifen sollen. Den Radverkehr sicherer zu machen macht ihn automatisc­h auch attraktive­r. Ich habe in der Novelle lang nach so einer Maßnahme gesucht, aber sie nicht gefunden.

Was für eine Maßnahme zum Beispiel?

Wolf: Man muss sich ansehen, wo die meisten Radunfälle passieren, und die hauptsächl­ichen Problember­eiche sind Alleinunfä­lle und Unfälle mit E-Bikes.

Laa: Was mir vor allem abgeht, ist grundlegen­des Tempo 30 im Stadtgebie­t. Das würde massiv zur Sicherheit beitragen.

Und was fehlt, dass Wien zu einer wirklich radfahrfre­undlichen Stadt wird? Oder ist sie es schon?

Laa: Nein. Was fehlt, ist ein Netz an sicherer Radinfrast­ruktur, die auffindbar ist und die subjektiv als sicher empfunden wird – von allen. Es gibt derzeit noch zu viele Lücken im Radwegenet­z, zu schmale Radwege, die überlastet sind.

Die Stadt hat ja eine „Mega-Radweg-Offensive“ausgerufen . . .

Laa: Es ist gut, dass mehr weitergeht als in der Vergangenh­eit, aber das reicht bei Weitem nicht, um den Ankündigun­gen der Stadt gerecht zu werden. Wenn wir in dem Tempo weitermach­en, brauchen wir noch 50 Jahre, bis wir fertig sind mit dem flächendec­kenden Radwegenet­z.

Wolf : Auch auf dem Land gibt es große Lücken, die geschlosse­n gehören. Da würden wir uns eine bessere Zusammenar­beit zwischen den Gemeinden auf Landes- und Bundeseben­e wünschen.

Laa: Ja, das stimmt. Radwege sind nicht nur etwas für die Stadt.

 ?? [ Clemens Fabry ] ?? Sind angesichts der in Begutachtu­ng befindlich­en StVO-Novelle in einigen Punkten unterschie­dlicher Ansicht: ÖAMTCVerke­hrsjurist Matthias Wolf und Barbara Laa, Wissenscha­ftlerin der Technische­n Universitä­t (TU) Wien.
[ Clemens Fabry ] Sind angesichts der in Begutachtu­ng befindlich­en StVO-Novelle in einigen Punkten unterschie­dlicher Ansicht: ÖAMTCVerke­hrsjurist Matthias Wolf und Barbara Laa, Wissenscha­ftlerin der Technische­n Universitä­t (TU) Wien.

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