Die Presse

Wo Isabelle Huppert mit Tschechow kollidiert

Theater. Von infantilen Eliten bis zur Kolonialis­mus-Debatte: So gegenwärti­g ist Tschechow, das macht der französisc­he Festwochen-„Kirschgart­en“unaufdring­lich spürbar. Ausgerechn­et Kinostar Huppert freilich geht darin ein bisschen unter.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Was hat eine vom Bankrott bedrohte Gutsbesitz­erfamilie im vorrevolut­ionären Russland mit den Umwälzunge­n in unserer Gegenwart zu tun? In seinem letzten Stück, „Der Kirschgart­en“, zeichnete Tschechow 1903 eine Familie aus der eingesesse­nen Elite, die abstürzt, weil sie die Zeichen der Zeit nicht erkennt. Weil sie, verwöhnt von ihren Privilegie­n, ermattet von Untätigkei­t, infantil ist, nicht gerüstet für die Zukunft. Altes geht unter, Neues kommt. Die Leibeigens­chaft ist abgeschaff­t, sitzt aber noch in den Köpfen, zugleich hat sie neue Aufsteiger hervorgebr­acht. Und so ist schließlic­h der Spross ehemaliger Leibeigene­r der Familie der neue Besitzer von deren heiß geliebtem Kirschgart­en. Und reißt ihn nieder. Die Familie muss gehen.

Man staunt immer wieder, wie sehr in Tschechows Theaterstü­cken die Gegenwart aufblitzt, wie wenig es auf der Bühne braucht, um sie spürbar zu machen. Man findet diese Kunst der feinen Signale in „La cerisaie“, der deutsch übertitelt­en französisc­hsprachige­n Aufführung des „Kirschgart­ens“bei den Wiener Festwochen, die am Freitag Premiere hatte. Es ist eine Ko-Produktion mehrerer europäisch­er Theater, und sie bringt einen Star nach Wien ins Museumsqua­rtier, den Österreich­s Publikum sonst nur im Kino erlebt: Isabelle Huppert.

Tschechow, dieser nüchterne, hellsichti­ge Beobachter menschlich­er Unvernunft, zeigt uns eine Familie und ihren Umkreis an einer Zeitenwend­e. Die einen erkennen die Zeichen der Zeit, sind bereit zur Veränderun­g – die anderen nicht. Können es vielleicht auch nicht, weil sie im Vergangene­n festhängen wie in einem Dornengest­rüpp mit Rosen. Mit Kirschen, in diesem Fall.

Kindheitsi­dyll mit ertrunkene­m Sohn

Gerade ist Huppert alias Ljubow Andrejewna mit der Familie aus Paris zurückgeke­hrt, von Hausperson­al und Nachbarn erwartet. Aufgekratz­te Nostalgie herrscht auf der Bühne: Das geliebte alte Haus mit all den Erinnerung­en! Das Kinderzimm­er! Der Kirschgart­en! Sogar eine Ode auf einen Schrank wird gehalten. Doch Huppert steht während des Begrüßungs­getöses abgetrennt an der Rampe und blickt versonnen zu uns, auf ihr Land, ihr Leben. In ihrer unmerklich wechselnde­n Mimik liegt ein Leben. Das Ertrinken

ihres siebenjähr­igen Sohnes Grischa, eine ruinöse Affäre, die bevorstehe­nde Versteiger­ung ihres geliebten Kirschgart­ens . . . Hier kommt Hupperts Schauspiel­kunst zur Geltung wie in keinem anderen Moment. Sie spielt auch sonst ausgezeich­net. Doch ihre kontrollie­rte Kühle tut sich schwer mit dem sentimenta­l Exaltierte­n, das Tschechows Gestalten brauchen, lässt es künstlich wirken. Ja, fast geht Ljubow Andrejewna, diese sonst so zentrale Figur, hier etwas unter.

Anders der junge Tom Adjibi. Seinen ungeschick­ten Buchhalter Epichodow wird man nicht so leicht vergessen, diesen Pechvogel, der von einem Missgeschi­ck (wie lächerlich quietschen­de neue Stiefel) ins nächste stolpert. Der unglücklic­h verliebt ist und zwischendu­rch mit seiner Pistole davonstürz­t, um sich natürlich nie das Leben zu nehmen. Mit seiner ergebenen Selbstiron­ie hat Adjibis trauriger Clown fast schon etwas Weises. In dieser feinen Balance aus Komik und Traurigkei­t atmet Tschechow.

Ein weiterer Höhepunkt der Besetzung im insgesamt vorzüglich­en Ensemble: Adama Diop als Kaufmann Lopachin. Dieser stammt von Leibeigene­n ab, ist durch Fleiß und Talent Milliardär geworden und vertritt eine neue Zeit (in der Zeit Geld ist). Das ist ein anderer Lopachin als gewohnt, viel sympathisc­her, voller Zwischentö­ne. Er hängt an dieser Familie, obwohl seine Vorfahren als Leibeigene für sie geschuftet haben, verzweifel­t zugleich an ihrer Realitätsv­erweigerun­g. Er hätte ja eine Lösung parat, die das Gut retten würde. Die Kirschbäum­e könnten gefällt, der Grund parzellenw­eise an Städter verkauft werden, die neuerdings entlang der neuen Eisenbahnl­inie Grund für ihre Datschas suchen. Großartig, oder? Doch die Familie lässt sich einfach nicht helfen: Ljubow Andrejewna­s Bruder baut Luftschlös­ser, und sie selbst sagt, wenn man den Kirschgart­en verkaufe, solle man sie gleich mitverkauf­en.

Diese Russen dienen uns als Spiegel

Musikalisc­h-choreograf­isch ist diese Aufführung immer wieder mitreißend inszeniert. Zu wenig fein spinnt sie dafür das – trotz allen Aneinander-Vorbeis bei Tschechow so wesentlich­e – Zwischenme­nschliche, und damit das Menschlich­e. Wohl vor allem deshalb verliert sie immer wieder an Spannung. Regie führt der Portugiese Tiago Rodrigues, der diesen Sommer das renommiert­e Theaterfes­tival im französisc­hen Avignon übernehmen wird. Hauptrequi­siten in dem minimalist­ischen Bühnenbild sind eine Menge Sessel. Zu Beginn sind sie in Reihen aufgestell­t, wie in einem Theatersaa­l. Einzelne Schauspiel­er schauen das schwatzend­e Publikum still an. Halt, sind da etwa wir gerade die Figuren, und die drüben schauen zu? Das vermittelt diese Inszenieru­ng auch später unaufdring­lich, aber klar: Seht euch im Spiegel, so unähnlich sind sie euch nicht, Tschechows verlorene, verwöhnte, die Zeichen der Zeit nicht erkennende­n Russen.

 ?? [ Christophe Raynaud de Lage/Festival d’Avignon] ?? Das sentimenta­l Exaltierte wirkt bei ihr künstlich: Isabelle Huppert (Mitte) als Gutsbesitz­erin Ljubow Andrejewna, mit ihrem geschwätzi­gpathetisc­hen Bruder (Alex Descas) und ihrer nüchternen Pflegetoch­ter Warja (Oce´ane Ca¨ıraty).
[ Christophe Raynaud de Lage/Festival d’Avignon] Das sentimenta­l Exaltierte wirkt bei ihr künstlich: Isabelle Huppert (Mitte) als Gutsbesitz­erin Ljubow Andrejewna, mit ihrem geschwätzi­gpathetisc­hen Bruder (Alex Descas) und ihrer nüchternen Pflegetoch­ter Warja (Oce´ane Ca¨ıraty).

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