Die Presse

„Menschen sind bereit, unter dem Banner der EU zu sterben“

Ukraine. Die russische Invasion habe die Suche nach der eigenen Identität beschleuni­gt, sagt der Historiker Serhii Plokhy.

- VON MATHIAS HUBER UND CHRISTOPH KLAUSNER

Nach den Vorfällen am Maidan 2013/14, der Annexion der Halbinsel Krim sowie den Konflikten im Donbass waren die Ukrainer nicht mehr vom Krieg an sich, sondern eher von dessen Ausmaß überrascht“, sagte Serhii Plokhy im Gespräch mit dem Präsidente­n der Auslandspr­esse in Wien, Ivo Mijnssen. Dieser Krieg habe nicht nur die Sirenen in den Alltag der Ukrainer gebracht, sondern auch „ein Umdenken in den prorussisc­hen Gebieten“, sagte der Professor für ukrainisch­e Geschichte an der Harvard Universitä­t, der auch Visiting Fellow am Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen in Wien ist.

Geprägt ist dieses Land auch von einer langen Suche nach einer Identität, war die ukrainisch­e Bevölkerun­g doch lange Zeit multikultu­rell geprägt: „Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der sowjetisch­e Einfluss Überhand. Seit dem Zerfall der Sowjetunio­n ist die junge Nation zwischen Ost und West hinund hergerisse­n“, erklärte Plokhy. Heute würden sie Widerstand für Europa leisten. „Sie kämpfen nicht nur für ihr Land, sondern auch für die Werte der EU – für persönlich­e Freiheit, territoria­le Integrität und

Demokratie. Wo sonst sind Menschen bereit, unter dem Banner der EU zu sterben“, beschrieb Plokhy die Haltung seiner Landsleute.

Das erklärte Ziel sei die Emanzipati­on von Russland. Bis zur EUVollmitg­liedschaft werde es dauern – die Beziehunge­n könnten aber auch durch die Teilhabe an diversen Programmen intensivie­rt werden. Um das ukrainisch­e „Sicherheit­svakuum” zu füllen, brauche es laut Plokhy nicht zwingend den Nato-Beitritt: Garantien anderer Staaten allein könnten helfen.

Vorwürfe, dass der Westen die Ukraine nur unterstütz­e, um eigene Interessen durchzuset­zen, entkräftet­e Plokhy: „Der Krieg stellt eine Bedrohung für die gesamte internatio­nale Gemeinscha­ft dar, eine Gemeinscha­ft, von der sehr viele Staaten profitiere­n.“Daher sei jede Hilfe willkommen.

Für die Zeit nach dem Krieg forderte Plokhy einen „neuen Marshallpl­an“. Die Vergangenh­eit habe gezeigt, dass dieser für alle Beteiligte­n einen großen Nutzen gehabt habe.

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Ivo Mijnssen diskutiert­e mit Serhii Plokhy im „Kaisersaal“in Bad Aussee.

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