„Menschen sind bereit, unter dem Banner der EU zu sterben“
Ukraine. Die russische Invasion habe die Suche nach der eigenen Identität beschleunigt, sagt der Historiker Serhii Plokhy.
Nach den Vorfällen am Maidan 2013/14, der Annexion der Halbinsel Krim sowie den Konflikten im Donbass waren die Ukrainer nicht mehr vom Krieg an sich, sondern eher von dessen Ausmaß überrascht“, sagte Serhii Plokhy im Gespräch mit dem Präsidenten der Auslandspresse in Wien, Ivo Mijnssen. Dieser Krieg habe nicht nur die Sirenen in den Alltag der Ukrainer gebracht, sondern auch „ein Umdenken in den prorussischen Gebieten“, sagte der Professor für ukrainische Geschichte an der Harvard Universität, der auch Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien ist.
Geprägt ist dieses Land auch von einer langen Suche nach einer Identität, war die ukrainische Bevölkerung doch lange Zeit multikulturell geprägt: „Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der sowjetische Einfluss Überhand. Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist die junge Nation zwischen Ost und West hinund hergerissen“, erklärte Plokhy. Heute würden sie Widerstand für Europa leisten. „Sie kämpfen nicht nur für ihr Land, sondern auch für die Werte der EU – für persönliche Freiheit, territoriale Integrität und
Demokratie. Wo sonst sind Menschen bereit, unter dem Banner der EU zu sterben“, beschrieb Plokhy die Haltung seiner Landsleute.
Das erklärte Ziel sei die Emanzipation von Russland. Bis zur EUVollmitgliedschaft werde es dauern – die Beziehungen könnten aber auch durch die Teilhabe an diversen Programmen intensiviert werden. Um das ukrainische „Sicherheitsvakuum” zu füllen, brauche es laut Plokhy nicht zwingend den Nato-Beitritt: Garantien anderer Staaten allein könnten helfen.
Vorwürfe, dass der Westen die Ukraine nur unterstütze, um eigene Interessen durchzusetzen, entkräftete Plokhy: „Der Krieg stellt eine Bedrohung für die gesamte internationale Gemeinschaft dar, eine Gemeinschaft, von der sehr viele Staaten profitieren.“Daher sei jede Hilfe willkommen.
Für die Zeit nach dem Krieg forderte Plokhy einen „neuen Marshallplan“. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass dieser für alle Beteiligten einen großen Nutzen gehabt habe.