Die Presse

Die Rohstoffma­cht Russland

Ohne seine Rohstoffe wäre Russland nie zur Großmacht geworden. Der Handel mit Öl und Gas war zugleich eine Brücke zwischen Osten und Westen, mit Abhängigke­iten.

- VON GÜNTHER HALLER

Unerwartet­e Preissprün­ge und Ängste vor Verknappun­g infolge geopolitis­cher Spannungen haben auch schon in der Vergangenh­eit das Geschehen auf dem globalen Energiemar­kt geprägt. Und das rohstoffre­iche Russland war schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts Teil dieser Geschichte. Europa hat sich mit einer hohen – heute meist bedauerten – Handelsnet­zdichte mit Russland verwoben. Bis heute exportiert Russland über seine riesige Pipeline-Infrastruk­tur Erdgas vorwiegend nach Europa, und zwar zu günstigere­n Konditione­n als die Flüssiggas­anbieter. Dadurch entstanden im Erdgasbere­ich zwischen Russland und Europa enge Abhängigke­iten, viel engere als beim Erdöl, das von Russland erst über Pipelines an seine Seehäfen transporti­ert werden muss, wo es abgefüllt in Fässern verschifft wird.

Es wurde unvermeidl­ich, dass diese Verflechtu­ng Auswirkung­en auf die Dynamik der Beziehunge­n zwischen dem westlichen und östlichen Teil des eurasische­n Kontinents haben würde. „Energie und Macht“hieß daher treffend ein über acht Jahre laufendes Projekt der Universitä­t Zürich, das eine Reihe von Pionierstu­dien zur russischen Energie- und Technikges­chichte hervorgebr­acht hat. Von dem Osteuropah­istoriker Jeronim Perović erschien zuletzt eine Analyse der Rohstoffma­cht Russland über die Energiepol­itik der vergangene­n hundert Jahre (siehe Literaturh­inweis).

Russland ist nicht nur das flächenmäß­ig größte Land der Erde, es ist auch der größte Rohstoffsp­eicher der Welt. Schon in der Vorstellun­gswelt des Zarismus machte die schiere Größe des Landes es allen anderen Staaten überlegen. Zur Geografie kam die Geologie. Bereits am Ende der Zarenzeit exportiert­e Russland in großem Stil Erdöl. Die Erschließu­ng konnte, wenn sie erfolgreic­h ablief, das Land zu einer modernen Großmacht machen. So der Ausgangspu­nkt. Was Russland für die Industrial­isierung brauchte, waren aber Arbeitskrä­fte, Kapital, Technik und Wissen. Das stand ohne ausländisc­he Hilfe nicht zur Verfügung, wie schon Graf Sergei Witte, der Regierungs­chef von Zar Nikolaus II., wusste.

Keine Energie ohne ausländisc­he Hilfe

Vor der Oktoberrev­olution waren es die westlichen Kapitalist­en wie die Firma Shell oder die Familie Rothschild, die die nötige Infrastruk­tur für eine konkurrenz­fähige Erdölindus­trie im Kaukasus aufbauten. Sie bedrängten damit den amerikanis­chen Platzhirsc­h Standard Oil, der bis dahin den Weltmarkt dominiert hatte. Und dann, nach der Verstaatli­chung und Vertreibun­g ausländisc­her Eigentümer? Änderte sich nicht viel, denn auch Lenins Bolschewik­i waren auf Kredite, Technik und Ausrüstung ausländisc­her Firmen angewiesen. Auch wenn die Sowjetunio­n offiziell die imperialis­tische Gier brandmarkt­e, blieb sie im Erdölsekto­r mit der Globalwirt­schaft verbunden. Sie war nicht imstande, den Energiesek­tor, den Kernbereic­h ihrer Wirtschaft, unabhängig von ausländisc­her Hilfe zu entwickeln.

Auf der anderen Seite war man ebenfalls flexibel, zu wichtig war das billige Öl aus dem Osten, vor allem für die Industrie und um die Tanks der Autos zu füllen. In den 1970er-Jahren suchten die Europäer Alternativ­en zum stark verteuerte­n Öl aus dem Nahen Osten. Sie fanden als Alternativ­e zur OPEC das Öl aus der Sowjetunio­n. Endgültig zum wichtigste­n Rohstoffli­eferanten für den Westen wurde sie aber erst mit der Erschließu­ng der westsibiri­schen Erdgasfeld­er in den 1970erJahr­en. (Beim Gas war Russland also verglichen mit dem Öl ein Spätzünder.) Bis heute hat sich Russland diese enorme Bedeutung erhalten. Sie begann mit dem 1983 fertiggest­ellten Bau einer Gaspipelin­e vom ergiebigen Urengoi-Feld direkt ins Herz von Europa.

Fossile Energie wurde Russlands wichtigste­s Exportgut, zudem wurde Russland die einzige Industrien­ation, die sich selbst

mit Energie versorgen konnte. Während westliche Staaten darum kämpften, Ressourcen im Ausland auszuschöp­fen, durch Krieg oder Konzession­en, galt der Kampf der Russen der Überwindun­g der Schwierigk­eiten bei der Ausbeutung der inländisch­en Energieque­llen. Die Gegner waren die großen Distanzen, das widrige Klima und ein schlecht funktionie­rendes Wirtschaft­ssystem. Die größten Vorkommen waren nämlich in den schwer zu erschließe­nden Teilen des Landes.

Dadurch entstanden Abhängigke­iten, auf beiden Seiten. Russland bekam die Rohstoffe nur aus dem Boden, wenn westliche Banken die dafür nötige Technik finanziert­en. Die Wirtschaft der Sowjetunio­n war nie so potent, dass sie die sibirische­n Gasfelder allein hätte ausbeuten können. Und sie florierte immer dann, wenn der Preis für Öl und Gas hoch war. Dann konnten die systemisch­en Mängel der Planwirtsc­haft ausgeglich­en und die verbündete­n Staaten im Ostblock günstig beliefert werden. Als der Preis für Erdöl Mitte der 1980er-Jahre einbrach, zerfiel auch das System, trotz Gorbatscho­ws Reformbemü­hungen.

Die Leistung von Jeronim Perovićs Buch besteht darin, dieser Geschichte des ostwestlic­hen Energiehan­dels den gebührende­n Platz in der russischen Geschichte einzuräume­n. Sie ist sonst in Darstellun­gen des Kalten Kriegs und Überblicks­geschichte­n eher ein Nebenschau­platz. Hier aber wird nachgewies­en, „dass das Denken darüber, wie Rohstoffe verwendet werden sollten, das Verhalten Russlands gegenüber seiner Außenwelt weit stärker beeinfluss­t hat als bisher angenommen.“

Bereits in den 1920er-Jahren setzten die Sowjets Erdöl ein, um das Land mit Handel und Investitio­nen aus der internatio­nalen Isolation zu führen. Als Hitlers Armeen einmarschi­erten, ließ Stalin Erdölanlag­en abmontiere­n oder zerstören, um sie nicht dem Feind zu überlassen, und begann gleichzeit­ig, neue Erdölfelde­r im Wolga-Ural-Gebiet zu erschließe­n. Bei dem Bau von Pipelines im Kalten Krieg spielten immer auch politische Überlegung­en eine Rolle. Gas und Öl waren auch ein Bindemitte­l für die eroberten osteuropäi­schen Staaten, gleichzeit­ig wurde Russland zum wichtigste­n externen Energiever­sorger Westeuropa­s. Und nach dem Zerfall der Sowjetunio­n dienten Energieexp­orte als Druckmitte­l gegenüber den Nachbarn.

Die USA erkannten das Problem früher

Die Amerikaner durchschau­ten schon früh die Energieabh­ängigkeit Europas als Mittel der geopolitis­chen Einflussna­hme Russlands und warnten vor dem Pipelinesy­stem. Während der Kuba-Krise und des Mauerbaus in Berlin verhängten sie Sanktionen gegen den Bau der Ölpipeline Druschba, damals folgten die Nato-Partner noch. Die USA schauten misstrauis­ch auf die „Wandel durch Handel“-Politik Willy Brandts. In den meisten Fällen scheiterte­n die amerikanis­chen Embargover­suche aber, weil die Europäer nun nicht mehr mitzogen, obwohl ihnen die Amerikaner Kohleliefe­rungen anboten. Zu groß war ihre Abhängigke­it geworden. Letzter Ausläufer dieser Entwicklun­g ist der Streit um die Nord-Stream-2-Gasleitung von Russland über die Ostsee nach Deutschlan­d. Da boten die USA Schieferga­slieferung­en als Ersatz für russisches Gas an.

Vollendet wurde das Buch kurz vor der russischen Invasion in die Ukraine. So wird die Einschätzu­ng des Autors, dass Russland seine Handelsbez­iehungen zu Europa wegen der Ukraine nicht aufs Spiel setzen werde, von der Realität überholt. Die „beruhigend­e Wirkung“, die Jeronim Perović den Verbindung­en im Energiesek­tor zugeschrie­ben hat, existiert nicht mehr. „Stürzt diese Brücke ein, dann wird sich Russland möglicherw­eise noch stärker als bisher von Europa entfernen.“Damit hat er dann doch recht.

 ?? ?? Jeronim Perovíc „Rohstoffma­cht Russland – Eine globale Energieges­chichte“
Böhlau-Verlag 259 Seiten, 41 €
Jeronim Perovíc „Rohstoffma­cht Russland – Eine globale Energieges­chichte“ Böhlau-Verlag 259 Seiten, 41 €
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[ Getty Images ] Erschließu­ng eines sibirische­n Erdölfelds 1963.

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