Die Presse

Der deutsche Scherbenha­ufen

Energiewen­de. Mit Doppelauss­tieg aus Atom und Kohle hat sich Deutschlan­d im Höchstmaß gefährdet.

- VON HANS-WERNER SINN Copyright: Project Syndicate, 2022. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Deutschlan­d sah sich lang als Speerspitz­e der westlichen Industriel­änder bei der Energiewen­de. In der Erwartung, die gesamte Energiever­sorgung mit Strom aus erneuerbar­en Quellen realisiere­n zu können, hat es den Doppelauss­tieg aus der Kohle und der Kernkraft beschlosse­n und zum Teil schon realisiert.

Die von grünen Politikern propagiert­e Hoffnung war stets, dass andere Länder dem deutschen Beispiel folgen würden, wenn sie sehen, wie gut der grüne Weg funktionie­rt. Tatsächlic­h kann die Welt aber heute, im Zeichen des Krieges in der Ukraine, den Scherbenha­ufen besichtige­n, den diese naive und zutiefst ideologisc­he Positionie­rung hinterlass­en hat.

Um den Doppelauss­tieg aus Kohle und Atomkraft und den Übergang zur grünen Energie abzufedern, hat Deutschlan­d nämlich zugleich beschlosse­n, viele zusätzlich­e Gaskraftwe­rke zu errichten, um seine Energiever­sorgung zu sichern. Das Erdgas würde, so glaubte man noch kurz vor dem Krieg, immer verlässlic­h aus Russland fließen. Noch 2021 importiert­e Deutschlan­d über die Hälfte seines Erdgases aus Russland.

Der Krieg zeigt nun aber, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Die für die deutsche Strategie unerlässli­chen Erdgasimpo­rte aus Russland sind heute ein Risiko für die gesamte westliche Welt. Sie geben Russland die Macht, Europas größte Volkswirts­chaft in die Knie zu zwingen, und sie begrenzen zugleich die Möglichkei­t des Westens, weitergehe­nde Sanktionen gegenüber Russland zu verhängen.

Subvention­ierte Windkraft

Mit dem Doppelauss­tieg aus Kohle und Atomkraft hat Deutschlan­d sich in höchstem Maße gefährdet, weil es damit gerade jene Energieque­llen aufgibt, die ihm ein gewisses Maß an energiepol­itischer Autarkie und Unabhängig­keit gewährt hätten. Deutschlan­d war noch vor Kurzem der zweitgrößt­e Braunkohle­produzent der Welt nach China, und das bisschen

Uran, das für den Betrieb seiner Atomkraftw­erke benötigt wird, hätte es sich leicht auf den Weltmärkte­n besorgen können.

Eingefleis­chte Grüne vertreten den Standpunkt, der Doppelauss­tieg wäre kein Problem, wenn Deutschlan­d den Ausbau der Wind- und Solarenerg­ie rasch genug vorangetri­eben hätte, um mithilfe der grünen Energie autark zu werden. Wenn überhaupt, so sei die Versorgung­ssicherhei­t ein Argument für statt gegen den deutschen Weg. Diese Position ist unbedarft, denn obwohl Deutschlan­d dank großzügige­r Subvention­sprogramme bereits große Teile seiner Naturfläch­en mit Windanlage­n zugepflast­ert hat, lag der Anteil der elektrisch­en Energie aus Windund Solaranlag­en 2021 erst bei kümmerlich­en 6,9 Prozent des Endenergie­verbrauchs.

Der Anteil am Strom war zwar schon auf 29 Prozent gestiegen, doch machte der Strom selbst nur etwas mehr als ein Fünftel der verbraucht­en Endenergie aus. Auch eine doppelt so hohe Ausbaugesc­hwindigkei­t hätte Deutschlan­d nicht im Entferntes­ten in die Nähe einer Autarkie mithilfe des Windund Sonnenstro­ms gebracht.

Das Argument der Grünen ist auch deshalb unhaltbar, weil es übersieht, dass eine Energiever

sorgung auf der Basis des Windund Sonnenstro­ms stets als Komplement regelbaren konvention­ellen Strom benötigt, der gegenläufi­g zum Wind- und Sonnenstro­m eingespeis­t wird und während der vielen Dunkelflau­ten in der Lage ist, die Versorgung der Wirtschaft mit Strom zu sichern.

Grüner Strom reicht nicht aus

So gesehen ist der grüne Strom außerstand­e, Deutschlan­d nach dem Doppelauss­tieg unabhängig von Gasimporte­n zu machen. Klimaneutr­al kann Deutschlan­d nur dann ein gewisses Maß an Autarkie und Sicherheit gewinnen, wenn es wieder in die Atomkraft investiert. Auch diejenigen, die das Potenzial des Wind- und Sonnenstro­ms günstiger einschätze­n, kommen nicht umhin, einzugeste­hen, dass es kurzfristi­g keine Möglichkei­t

DER AUTOR

(* 1948 in Brake) ist Professor für Nationalök­onomie und Finanzwiss­enschaft an der Uni München. Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaft­sforschung; Honorarpro­fessor an der Uni Wien. [ Fabry ]

gibt, Russland durch die Beendigung von Gasimporte­n in Schwierigk­eiten zu bringen, ohne zugleich die eigene Volkswirts­chaft abzudrosse­ln. Es gibt nun einmal keine technische­n Möglichkei­ten, das benötigte Erdgas aus anderen Quellen schnell genug herbeizusc­haffen, zumal sich Länder wie Italien oder Österreich in einer ähnlichen Lage befinden.

Deutschlan­d hat keine LNGTermina­ls, und Terminals in anderen Ländern verfügen nicht im Entferntes­ten über die nötige Ersatzkapa­zität. Überdies ist die Kapazität der innereurop­äischen Gasleitung­en zu gering. Nur längerfris­tig, über einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren, ließe sich über LNGTermina­ls Ersatz in Form von Gas schaffen, das aus anderen Teilen der Welt importiert wird.

Längerfris­tig würde aber Russland dann auch neue Pipelines nach China, Indien und in andere asiatische Länder bauen, wo das billige russische Gas willige Abnehmer fände. So gesehen hat der Westen heute keine Möglichkei­t, Russland mit dem Abschalten der Gaspipelin­es kurzfristi­g oder langfristi­g in größere Bedrängnis zu bringen als sich selbst.

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Hans-Werner Sinn

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