Nichts sehen, nichts sagen! Ludwig und die Wiener SPÖ-Tradition
Proteste verbieten, Missbrauchsfälle vertuschen, RH-Kritik negieren: Vor seiner Wiederwahl als Parteichef heute wirkt Wiens Bürgermeister nicht mehr souverän.
So schnell kann es gehen. In Zeiten der Coronakrise wurde Wiens Bürgermeister, Michael Ludwig, auf den Schild des ruhigen, konsequenten Pandemie-Managers gehoben. Als solcher wurde er herumgereicht und von manchen in der SPÖ dazu auserkoren, als Spitzenkandidat bei der nächsten Nationalratswahl als einziger in der Partei mit guten Aussichten auf den ersten Platz anzutreten.
Doch es kam anders. Kurz vor dem Parteitag der Wiener SPÖ am heutigen Samstag, bei dem sich die Gesamtpartei mit einem Führungsanspruch im Bund zurückmelden wollte, steht Ludwig plötzlich nicht mehr als souveräner Politiker da. Die Klimaaktivisten und Stadtstraßen-Gegner, das folgende Demonstrationsverbot vor der Tagungshalle setzen ihm zu. Von Anbeginn der Lobau-Besetzungen im August 2021 hat Ludwig nicht den richtigen Ton gefunden. Mit jungen Protestierern wollte er offenkundig nichts zu tun haben. Mit den Protesten heute war zu rechnen.
Nicht gerechnet haben Wiens Bürgermeister und seine Partei damit, dass just in den Tagen vor dem Parteifest eine Verwaltungsmethode im Bereich der Stadt publik wird, die wahrscheinlich immer schon da und gängige Praxis war: Wegsehen oder vertuschen!
Was da in den Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch in einem Kindergarten in Wien Penzing und in einer Mittelschule an Verschweigen und Nichtinformation bekannt wurde, erinnert stark an die Erzählung einer Volksschullehrerin vor Jahrzehnten: Sie wollte einen Missbrauchsverdachtsfall melden. Die Reaktion der Direktorin: Komme nicht infrage, das schaffe nur Ärger und Probleme mit den Behörden. Bedeute also Arbeit.
Wir schreiben das Jahr 2022. Eltern werden nicht verständigt, der wahre Grund einer Versetzung wird verschwiegen – und Bürgermeister Ludwig fiel nicht mehr ein als die Ankündigung: „Ich werde alles daran setzen, das Vertrauen der Eltern wiederherzustellen.“Im Fall der Mittelschule soll es sich um einen Zeitraum von 15 Jahren gehandelt haben. Es ist nicht die Frage der formalen Verantwortung, die Ludwig belastet, sondern die Art und Weise, wie er auf Proteste und Vorfälle reagiert. Nach der Art des Hauses, offenbar: Nur kein Eingeständnis, das der SPÖ schaden und den Ruf von der am besten verwalteten Stadt der Welt stören könnte.
Allein die Zeiten haben sich geändert. Am 11. Mai wurde ein Bericht des Wiener Stadtrechnungshofs bekannt, in dem mit schonungsloser Offenheit unter anderem die Öffentlichkeitsarbeit der Wiener Müllabfuhr kritisiert wurde. Erstaunlich, dass der mediale Niederschlag mit zwei Ausnahmen äußerst gering war, nachdem sich auf Bundesebene seit Monaten alles um die sogenannte Inseratenkorruption dreht.
Da soll unter der Aufmerksamkeitsschwelle geblieben sein, dass die MA4 48 von 2017 bis 2019 5,6 Millionen Euro für Öffentlichkeitsarbeit ausgegeben hat; dass das jährliche „Mistfest“mit 100.000 Euro an Inseratenaufwand beworben wurde; dass die Rechtfertigung auf Kritik des Rechnungshofs so lautete: Eine „erfolgreiche Abfallwirtschaft braucht Öffentlichkeitsarbeit . . .“So ein Mist, könnte man sich denken, sollte die Gemeinde Wien tatsächlich glauben, Inseratenkorruption ließe sich unter Bergen von Müll verstecken. Eine konkrete und aktuelle Reaktion Ludwigs ließ sich nicht finden.
Nicht die Frage der formalen Verantwortung belastet Ludwig, sondern die Art und Weise, wie er auf Proteste und Vorfälle reagiert.
Er sollte sich nicht zu sicher fühlen. Die Vorarlberger ÖVP, ebenfalls seit Jahrzehnten an der Macht, sogar mit einem tadellosem Ruf der Korrektheit ausgestattet (bis jetzt), geht auch im Strudel dubioser Methoden unter. Als echter Wiener kennt Ludwig sicher den Spruch: Es sind schon Hausherren gestorben! Oder Spitzenkandidaten. Auch bei über 90 Prozent Zustimmung am Parteitag. Bleibt also Pamela Rendi-Wagner mit ihren 75 Prozent, ihrem Politik-Defizit, aber erstaunlichem Durchhaltevermögen.
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