Vladimir Vertlib: Der Jude und der Faschist
sich trotzdem noch darüber wundert, warum die offizielle russische Propaganda einen Staat mit einem jüdischen Präsidenten als „Nazi-Land“bezeichnen kann, ohne dass die Mehrheit der eigenen Bevölkerung eine solche Behauptung als widersprüchlich empfindet, darf nicht vergessen, dass die Entwicklung der russischen Zivilgesellschaft der unseren in Mitteleuropa etwa ein halbes Jahrhundert hinterherhinkt.
Dieser Umstand prägt die Mentalität und das Selbstverständnis, mit dem man sich und andere, das eigene Land und fremde Länder sieht. Die Vorstellung von einem „antisemitischen Juden“, der sich in den Dienst von Faschisten stellt, gehört genauso dazu wie einst in den USA jene des „rassistischen Schwarzen“, der treu seinen weißen Herren diene, oder von mächtigen Frauen, die Trägerinnen patriarchaler Verhältnisse seien. Verachtung hängt sich das Mäntelchen vermeintlicher Menschenkenntnis um. Wer als Angehöriger einer Minderheit Erfolg haben will, müsse überangepasst sein, im Zweifelsfall seine eigene Gruppe verraten oder verleugnen, glaubt man.
Das Tragische ist, dass darin ein Körnchen Wahrheit steckt. Hatte nicht das islamistische, frauenfeindliche Pakistan mit Benazir Bhutto einmal eine weibliche Regierungschefin? War nicht Bruno Kreisky als Jude zu einer Zeit Bundeskanzler, als man Österreich mit viel größerer Berechtigung als „Nazi-Land“bezeichnen konnte als die heutige Ukraine? Kreisky verleugnete seine jüdische Herkunft, verbündete sich mit Rechtsradikalen und behinderte durch Angriffe auf seine Kritiker (zum Beispiel auf Simon Wiesenthal) eine offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit seines Landes. Auch ehemalige Nazis und Antisemiten wählten Kreisky. Für sie war er „unser Jude“, dessen Geschick bewundert wurde, und von dessen Reformen und Modernisierungsmaßnahmen fast alle im Land profitierten; doch niemand vergaß jemals, dass er Jude war.
Letztlich ist sogar durch die Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten und durch seine beiden Amtszeiten ein Land wie die USA nicht weniger rassistisch geworden. Nach Obama kam Trump. Rückständig und vordemokratisch ist es jedoch, anzunehmen, es könne nur so laufen, dass erfolgreiche Frauen oder Angehörige von Minderheiten zwangsläufig Opportunisten sein müssen.
Ist Wolodymyr Selenskij ein solcher? Bis zu einem gewissen Grad vielleicht – zudem bekämpft er seine politischen Gegner oft mit undemokratischen Mitteln. Aber er hat zum richtigen Zeitpunkt Mut und Geschick bewiesen und sein Land vor dem Untergang bewahrt. Da werden ihm wohl sogar die Ultranationalisten und (wenigen) Neonazis im eigenen Land verzeihen, dass er Jude ist.
Der Antisemitismus hat in Osteuropa eine lange Tradition. Im postsowjetischen Raum ist er immer noch stark ausgeprägt und im gesellschaftlichen Diskurs bei Weitem nicht so tabuisiert wie in Mittelund Westeuropa. Einst waren Polen, Litauen, Belarus und die Ukraine Zentren jüdischen Lebens. In vorindustrieller Zeit nahmen Juden jahrhundertelang eine wirtschaftliche Vermittlerrolle zwischen der Schicht der herrschenden Großgrundbesitzer und den leibeigenen Bauern ein.
Diese Stellung war prekär. Der Adel verachtete sie, die Bauern hassten sie. Die Gefahr von Pogromen war immer präsent. Später opponierten viele Juden gegen das repressive zaristische Regime, wurden zu Intellektuellen, Künstlern und Revolutionären, was sie bei vielen Menschen gleichermaßen verhasst machte. Ihr Auftreten und ihr Erfolg wurden als anmaßend empfunden, der bolschewistische Terror mit ihnen in Verbindung gebracht.
Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn – einer der größten russischen Autoren des 20. Jahrhunderts und nach Eigendefinition halb Russe, halb Ukrainer – meinte, ein Jude, so assimiliert er auch sein möge, werde das Wesen und die Seele eines slawischen Menschen niemals verstehen. Damit sprach er nur aus, was viele seiner Landsleute dachten und immer noch denken – Mentalität und Charakter liegen den Menschen im Blut. In der Sowjetzeit mussten Menschen jüdischer Herkunft unter Stalin mit Verfolgung, später mit Diskriminierungen bei der Ausbildung und im Berufsleben rechnen.
Bis in die 1990er-Jahre war die „nationale“Herkunft aller Menschen in ihren
Personalausweisen festgeschrieben. Auch Juden galten als Ethnie. Unabhängig von ihrem Glauben oder ihrem Selbstbild wurden Menschen jüdischer Herkunft offiziell als Juden angesehen. Niemand, auch sie selbst nicht, wäre auf die Idee gekommen, sie seien Russen oder Ukrainer, Belarussen, Letten oder Georgier, auch dann nicht, wenn sie in diesen Ländern lebten und sich längst an die jeweiligen Sprachen und Kulturen assimiliert hatten. Diese Vorstellung ist noch nicht zur Gänze überwunden – weder in Russland noch in der Ukraine oder in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Unter den von den russischen Machthabern heute als sogenannte ausländische Agenten diffamierten Regimegegnern sind viele Juden. Vor Kurzem waren es zum Beispiel der Kreml-Kritiker und ehemalige Polithäftling Michail Chodorkowski und der frühere Schachweltmeister Garri Kasparow, denen vorgeworfen wurde, von der Ukraine und den USA finanzielle Unterstützung erhalten zu haben. Juden und Menschen jüdischer Herkunft als Vaterlandsverräter und gekaufte Saboteure zu bezeichnen hat in Russland immer noch Tradition.
Selenskij hat sein Land vor dem Untergang bewahrt. Da werden ihm wohl sogar die Ultranationalisten im eigenen Land verzeihen, dass er Jude ist.
Heilsamer Schock für die Elite
Putins Angriffs- und Vernichtungsfeldzug gegen sein Nachbarland ist kein „jüdischer Krieg“. Die „jüdische Frage“steht nicht im Vordergrund, wird aber – wie könnte es auch anders sein? – dennoch immer wieder thematisiert. Zu den wenigen „positiven“Auswirkungen dieses Krieges gehören allerdings der heilsame Schock und die Scham, die er bei der intellektuellen und künstlerischen Elite Russlands ausgelöst hat. In diesem Milieu (einer kleinen Minderheit zwar, aber immerhin!) haben nun jegliche Formen des als „Nationalstolz“getarnten Chauvinismus keine Chance mehr.
In der Ukraine wiederum setzt sich zunehmend das moderne Konzept durch, alle Staatsbürger, die sich zu ihrem Land bekennen, unabhängig von ihrer Herkunft und Muttersprache, als Ukrainer zu sehen.