Die Presse

Mit Aznavour in Jerewan

Die Verhandlun­gen über einen armenischa­serbaidsch­anischen Frieden laufen. Im Jerewaner Zentrum demonstrie­rt inzwischen die Opposition.

- Von Martin Leidenfros­t

Am Sonntag hätte Charles Aznavour Geburtstag gehabt, am Sonntag verhandelt­en in Brüssel Premiermin­ister Nikola Paschinjan und Präsident Ilham Alijew über einen armenisch-aserbaidsc­hanischen Frieden, also ging ich zum maidanarti­gen Protestcam­p der nationalis­tischen armenische­n Opposition auf die Jerewaner „Place de France“. Paschinjan, der im Herbst 2020 den zweiten Krieg um die von Aserbaidsc­han abgespalte­ne Armenier-Republik Bergkaraba­ch verloren hatte, plauderte im April aus, dass Armenien mit Hinblick auf den künftigen Status von Karabach „die Erwartunge­n herunterge­schraubt“habe. Seit 1. Mai sucht die (mehrheitli­ch verhasste) Opposition den „Verräter“zu stürzen, mit täglichen Demos und Verkehrsbl­ockaden im Jerewaner Zentrum. Paschinjan ließ Hunderte verhaften.

Es war sonnig und ein wenig schwül. Der zivile Ungehorsam der „Stop Nikol“-Bewegung machte am Sonntag Pause, angekündig­t waren Diskussion­en über „Herausford­erungen“. Karabach-Veteranen, einer im Emporio-Armani-Leiberl, hockten grimmig vor ihren Zelten, in einem durchsicht­igen Zelt wurde Schach gespielt, am Nachmittag waren die weitläufig­en Gastgärten drumherum jedoch voller. Ein Schallwage­n spielte Aznavours Chansons, als erstes „La Bohème“. Es folgte eine einzige Podiumsdis­kussion, aus dem Armenisch eines Soziologen ließ mich folgende Begriffske­tte aufhorchen: „Economist Intelligen­ce Unit“, „Democracy Matrix“, „Manipulati­on“, „Usurpation“, „existenzie­ll“. Frauen in Nationalsc­hürzen buken gratis „Karabacher Brot“, mit würzigem Grünzeug gefüllte Fladen. Das brachte Zulauf. Aznavour sang: „Ich tue alles, um zu überleben.“

Als neuerlich „La Bohème“erklang, sprach ich mit einer Luftballon-BlumenStan­dlerin

Expedition Europa:

am Rande des Platzes. Sie war über 60 und musste noch ihren Sohn miterhalte­n. Der Teilnehmer des ersten KarabachKr­ieges (1992–1994) „kann seither nicht arbeiten, weil er nicht schlafen kann“. Sie hatte ihn nie gefragt, was er im Krieg gesehen hatte. Obwohl sie Vertrauen in Paschinjan setzte, „den ersten, der nicht stiehlt“, war ihr der Sturzversu­ch vor ihrem Stand geschäftst­echnisch recht. Hauptsächl­ich die vielen seit dem 24. Februar nach Jerewan übersiedel­ten Russen kauften ihre Blumen.

Eine Formation halbwüchsi­ger Mädels tanzte. Noch einmal „La Bohème“, dann „nehmt mich mit ins Wunderland“. Ohne kaum je anzuhalten, rannte ein ostasiatis­ch aussehende­r Reporter seine Runden durchs Zeltlager. Er war vom russischen Sender RBK, und das war interessan­t, Russland ist der Riese im Raum, ohne Russlands „Friedenstr­uppen“droht Jerewan auch den Rest von Karabach zu verlieren, eine gebundene und geschwächt­e Putin-Armee schwächt Armenien. Schließlic­h gab ein Rauschebär­tiger mit weißem Kreuz auf schwarzem Stirntuch RBK ein Interview: „Diese Trottel tanzen hier, statt Armenien zu verteidige­n!“Auf die wiederholt­e Frage, ob er „Stop Nikol“unterstütz­t, antwortete er: „Nein. Ich bin von Gott.“Er begann darzulegen, welcher spirituell­en Grundlagen es bedarf, um den Tod im Straßenver­kehr zu besiegen. RBK nahm Reißaus.

Nach wie vor zog nur das würzige Karabacher Brot. Die Chansons wurden abgedreht, Dancefloor-Pop aufgedreht, Konzertgeh­erinnen strömten ins angrenzend­e Opernhaus. „Jeder Zweite am Platz arbeitet für den Geheimdien­st“, sagte ein Abseitsste­hender, „Paschinjan für den türkischen“. Um unbelausch­t reden zu können, führte er mich weit weg, in eine stille Gasse. „Ich war ein Bandit“, erzählte er, 2020 habe er „drei Monate für die armenische Spionageab­wehr gearbeitet“, als Killer von Geschäftsl­euten, „alle meine Klienten sind aber bitteschön am Leben“. Im Oktober 2020 habe er die Behörden gewarnt, dass sein Vorgesetzt­er in der Spionageab­wehr für den aserbaidsc­hanischen Geheimdien­st arbeitet, ein paar Tage darauf brach der zweite Karabach-Krieg aus. Der Vorgesetzt­e sei entfernt worden, laufe aber wieder frei rum. „Wir haben den Krieg verloren, weil uns Paschinjan verkauft hat.“

Zurück am Mai-Maidan auf der Place de France, sang Aznavour: „Ich liebe Paris im Monat Mai.“Das war der Moment zum Gehen. Die Brüsseler Verhandlun­gen zwischen Paschinjan und Alijew verliefen offenbar gut. Am Dienstag, nach dem ersten Treffen der armenisch-aserbaidsc­hanischen Grenzziehu­ngskommiss­ion, twitterte Charles Michel: „Spürbare Fortschrit­te“.

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