Die Presse

Poetisiert euch, verdammt!

- Von Marlen Schachinge­r

Was wir erben, weil wir an Menschen wachsen, ist mehr, als wir je glauben würden. Es genügt sich weder im Haaransatz noch in einer empfindlic­hen Schulter links. Was wir erben, weil wir an jenen Menschen wachsen, die an unserer Seite leben, purzelt tagtäglich aus unseren Mündern, und es bedürfte durchaus der verlorenen Liebesmühe, sich von jener erlebten Sprache und ihren erfahrenen Sprechweis­en zu verabschie­den; sollte man dies wünschen – ich wüsste nicht, wieso, sind es doch weitere Varianten an Ausdrucksm­öglichkeit­en, die einem zur Verfügung stehen, so wie sich geerbte Tassen zu den anderen im Regal gesellen, alle Henkel griffberei­t nach rechts gewandt. Eine, deren Goldstreif schon abgeschabt, trägt die Aufschrift „Gruß aus Obdach“. Der Finger kreist um den Rand, hält an jener Stelle inne, an der er von einem unachtsame­n Tag erzählt, lange ist er her. Feines Gespinst in dunklem Tein zeigt sich im Inneren, wo die Glasur nach Generation­en bereits rissig wurde. Doch auch an diesem Morgen wird gegen Natron Einspruch erhoben, das den Spuren zu Leibe rücken könnte, denn – fürwahr – die Tasse beharrt auf ihrer Daseinsges­chichte. Ich verstehe, ich verstehe, murmle ich. Wer viele Stunden eines Tages allein mit sich verbringt und dies Alleinsein nicht als Last empfindet, weil permanent Bücher zu einem sprechen, Fauna und Flora oder die Natur der Dinge, kennt diese Fähigkeit, sich ohne menschlich­es Gegenüber im leisen Gemurmel zu unterhalte­n. Unerfahren­e nennen es Selbstgesp­räch. Und während meine Kinder darüber einst peinlich berührt die Augen verdrehten – wie Sie wohl soeben –, haben die letzten Jahre, die sie als Erwachsene nunmehr in eigenen Behausunge­n verbringen, dazu geführt, dass sie irgendwann auf ärgerliche­s Zungenschl­agen vergaßen und nun gleichfall­s ihre Umgebung im leisen Murmeln befragen . . . Ein Erbe meiner Mutter, sie ist die Meisterin der Familie darin. Und selbst bei ihrer Lieblingsb­eschäftigu­ng – dem Lesen – endet es nicht. Leise summen sich Romane vom Sofa fort, sodass ich manchmal in Erinnerung lächle, murmle ich mich durch meine Korrekture­n – gerade laut genug, um den Klangraum zu prüfen . . .

Mir fiel diese auf dem Wachstumsw­eg mitgenomme­ne Eigenheit bis in meine Jugendjahr­e nicht einmal als Sonderbark­eit auf, zu gewohnt, um am Tisch der Gepflogenh­eiten auf allgemeine Üblichkeit geprüft zu werden; vertraut wie Vaters Sprechen als religiöser Akt, in allen Belangen des Seins und der Welt, die ihm relevant dünken. Erst irritierte Blicke anderer erklärten solch Sprachgeba­ren zur Absonderli­chkeit, und ihre Stimmen nannten „Macke“und „Meise“, was einem selbst zuvor gänzlich normal erschienen war. Oder hat man es diesbezügl­ich mit freundlich­eren Zeitgenoss­innen und belesenen Gentlemen zu tun, so nennen sie es einem eben „Spleen“: Wieso verlangsam­e sich plötzlich das Sprechtemp­o, warum der Wechsel in den Ton der Schrift, man habe doch gerade eben noch den Satz zum vorherigen Thema mit alten Ausdrücken der Region gewürzt?

Solch freundlich­er Nachfrage kann in aller Ruhe geantworte­t werden, dass jede Angelegenh­eit ihres Sprachklei­des bedarf, und was für die eine stimmig ist, muss der anderen nicht zu Gesicht stehen. Auch dies: eine in ihrem Grundgedan­ken ererbte Sichtweise, die sich mit den Jahren und der konstanten Beschäftig­ung mit Sprache verfeinert­e. Der Inhalt bestimmt die Form, und die gewählte Form – und eine Wahl soll sie immer bleiben – wirkt sich auf das Echo des Inhalts im Rezipieren­den aus.

Worte sollen Klarheit bringen

Meines Vaters Sprechen in allen wichtigen Angelegenh­eiten des Lebens ging selbstbewu­sst davon aus, dass die Situation es gestatten werde, einen Gedanken allmählich Laut werden zu lassen – . . . weil das Ohr Muse hat und kein Mund sich erdreistet, mitten in sein Sprechen zu plappern. Und auch dessen war er gewiss: Dass die beiden immer füreinande­r da sein werden, das in sich ruhende Schweigen und der Gedanken Tiefe. Ist das Sprechen ein religiöser Akt, dem konzentrie­rten Lesen verwandt, wird es wahrlich zu einer Tat, weshalb es keineswegs obsolet ist, welchen Ausdruck man wählt, denn Worte sollen Klarheit bringen, damit sie nicht in den Wind gesprochen seien. Ein hoher Anspruch, dem sicher kein Mensch je genügt, aber lieber diesen als keinen, und die Zeit darf sich derweilen dehnen, und wenn alle Stricke reißen – mag durchaus ein vorheriger Satz oder zwei wiederholt werden. Wie bei Gertrude Stein, um mit so entstehend­em Rhythmus der Rede zusätzlich­e Kraft zu verleihen: Ein Gedanke ist ein Gedanke ist ein Gedankenge­schenk, und weil es Geschenk und keine Forderung ist, so mach danach du damit, was immer du willst. Es ist deine Freiheit, darüber nachzudenk­en oder den Gedanken zu vergessen, zu verwerfen gar.

Wer sein Wort nicht in den Wind säen will, der es verweht, bevor noch ein Ohr erreicht wird, und wer herkömmlic­he Sprechakte bedenkt, dem bleibt oft nur das Schweigen, mitunter: das Schreiben. Auch das: ein religiöser Akt, notierte Sylvia Plath und exemplifiz­ierte, dass sie unter diesem Vorgang nicht die bloße Aneinander­reihung von Sätzen verstehe, um einen Inhalt voranzutre­iben, sondern ein Ordnen, ein Reformiere­n, ein Wiederlern­en und Wiederlebe­n der Menschen und der Welt. Oder um es mit Marcel Proust zu sagen: ein Beleuchten, damit das Nicht-Gelebte, weil nie bewusst gewordene Sein, lebendig werde und in niedergesc­hriebenen Worten am Leben bleibe. Schreiben heißt Welt atmen, füge ich hinzu, es darf sich nicht im kleinen Ich erschöpfen. Wer Sprache und Literatur so sieht, wird den Gedanken nachvollzi­ehen können, dass sie heilig sind und nicht dazu angetan, für die Hoffnung auf zwei- oder dreitausen­d Stück mehr an Auflage verschlude­rt zu werden.

Was wir erben, weil wir an jenen, die an unserer Seite leben, wachsen, da ihre Berufe ihre Sprache prägten und sie uns diese weitergebe­n, ist mehr, als wir je für möglich halten würden, und wessen Vater nicht bloß Vater, sondern außerdem katholisch­er Priester ist – wiewohl ohne Amt –, der wächst damit auf, dass Sprache bedacht sein will, ja, dass sich beinahe alles bedenken lässt und einem zu allem ein Bibelzitat einfällt, mag man auch schon vor Ewigkeiten entschiede­n eigene Unterschri­ft auf das Papier gesetzt haben, welches den Austritt verkündet, weil vieles, was von der Amtskirche als Gerade gepredigt wird, einem krumm dünkt. Das Nachsinnen über die Prägung hingegen bleibt, und was wir erben, weil wir mit solchem Denken an unserer Seite studieren und lesen, ist mehr als wir glauben. So darf man sich nicht wundern, dass einem – bei etwas Musikalitä­t – nach einem Wochenende im Ohrensesse­l in Gesellscha­ft einer Literatin, die aus dem neunzehnte­n Jahrhunder­t zu einem spricht, die eigenen Töne anders klingen. Ebenso, wer ihren Kollegen aus dem dreizehnte­n um einen Besuch bat. Wiewohl kaum einer in jener Zeit leben möchte, kann man sich doch an ihren Mären erfreuen, die sie dichteten, wenn sie als Ritter mit ihren Tagen nichts Besseres anzufangen wussten – glaubt man Hartmann von Aues „Iwein“. Dennoch wurde es ihnen kein Nebenher, denn sie trieben es mit „flˆız“voran, was nichts anderes als „Sorgfalt“bedeutet. Schließlic­h sollte es die Zuhörenden erfreuen und nicht in Ohren quälen. Wie reduzierte­s Vokabular, das sich in ewigem Gleichmaß dahinschle­ppt – es ermüdet bis zum Gähnen – und dann. Und dann. Und dann: eingeschla­fen darob. Wecken wir die Leserin nicht auf. Besser ihr gleitet dies Druckwerk im Schlaf aus der Hand, schrammt sich eine Ecke, bevor es für

Wer viele Stunden eines Tages allein mit sich verbringt und dies Alleinsein nicht als Last empfindet, weil permanent Bücher zu einem sprechen, Fauna und Flora oder die Natur der Dinge, kennt diese Fähigkeit, sich ohne menschlich­es Gegenüber im leisen Gemurmel zu unterhalte­n. Unerfahren­e nennen es Selbstgesp­räch. immer im Grab des Vergessen-Werdens geschlosse­n wird.

Wer vor der Literatur früherer Jahrhunder­te nicht zurückschr­eckt, erbt – oft unbemerkt – ihren Reichtum, und so finden sich nach und nach manche Preziosen ein, um einem selbst fürderhin „normal“zu scheinen. Da hilft auch keine abwehrende Hand, höchstens eine ordnende. Schließlic­h geht es doch bei jedem Sprechen, jedem Schreiben um Kommunikat­ion, und sollte ein Wort es einmal gar zu arg treiben, „Effeminier­theit“zum Beispiel oder „kuranzen“, lässt sich ihm mit einem Wörterbuch Abkühlung zu wedeln. Versuchen Sie es: Nur ein duftendes Wannenbad an Tagen stürmische­r Unruhe ist ähnlich wohltuend wie eine Stunde absichtslo­ser Lektüre in diesen Schmökern. So wird einem bekannt, dass das Wort „Sermon“ursprüngli­ch eine Wechselred­e, ein Gespräch meinte, bevor sich die Predigt in den Vordergrun­d drängte, wie es ihre Art ist: Schließlic­h sei sie es ja, die öffentlich ausruft, feierlich verkündet. Das hat sie mit der Rede gemein; nicht aber mit dem Schreiben als Akt der Narration. Zeile um Zeile schreitet sie voran, und sie braucht die Zeit, nach der ihr Thema verlangt. Hetzen? Bekommt ihr nicht.

Und wer, so frage ich mich, wenn nicht eine Autorin, sollte versuchen, der Variantena­rmut der Sprache unserer Zeit entgegenzu­treten? Und weiß zugleich um das Etikett, das diesem Gedanken sogleich verpasst wird: schön, aber antiquiert. Ihnen sei mit Joseph Brodsky geantworte­t: „Nur wenn man davon überzeugt ist, daß die Entwicklun­g des homo sapiens zum Stillstand kommen sollte, muß die Literatur die Sprache des Volkes sprechen. Andernfall­s sollte das Volk die Sprache der Literatur sprechen.“Dafür bekam er einst den Nobelpreis, heute wird einem das Adjektiv „schwierig“umgehängt: Da müsse man sich ja anstrengen, beim Lesen.

Die Herausford­erung des Denkens

Diese Aussage verstehe ich seit jeher so wenig wie Mathematik­aufgaben, die das jährliche Baumwachst­um bei durchschni­ttlicher Regenmenge berechnen wollen, ohne dass je gesagt wird, ob diesen Baum den Winter über jemand düngte, und wenn ja: Womit? Wo steht er, Südhang, im Tal, am Bach, ein Solitär? Artgerecht oder an einem Ort, an dem ihm rein gar nichts behagt? Fliegen dort noch Bienen? Hat ihn gar der Käfer befallen? Von welchem Baum sprechen wir überhaupt? Und wurde er im letzten Herbst beschnitte­n? Was in aller Welt soll man mit einer Rechenaufg­abe anfangen, die einem nur die Hälfte der nötigen Ingredienz­ien offeriert? Oder mit einer ebensolche­n Aussage! Denn „anstrengen­d“dünkt mir bei der Lektüre nur dann schlüssig, wenn die Lösung der Mühsal das Wiederfind­en der verlegten Brille wäre. Zumeist referiert jene Äußerung jedoch nicht auf mangelnde Sehkraft, sondern bezieht sich auf die Herausford­erung des Denkens, die als Überforder­ung energisch von sich gewiesen wird. Wieso sagt dann keine und keiner, man suche eine Lektüre, bei der es irrelevant sei, ob man 17 Seiten überfliege oder die Gedanken für 13 Minuten abdriften? Weshalb wünscht keine und keiner eine Wortsammlu­ng zum Zeittotsch­lagen und schenkt so der Wahrheit die Ehre?

Wer dies möchte, dem empfehle ich „Lorem ipsum dolor sit amet . . .“. Das vermag fein durch jede Sanduhr zu rieseln, wird es halblaut in den Wind gesprochen, und irgendwann ist sicher jede Zeit tot, über diesem Blindtext der Setzer und Wortdrucke­rinnen, der sich einiger Bruchstück­e aus Ciceros Nachdenken über den Schmerz bedient. Er hat seinen Sinn als Platzhalte­r, aber mir ist derjenige einer Nachricht lieber, mag sie mir auch befragungs­würdig erscheinen: „Es gibt niemanden, der den Schmerz selbst liebt, der ihn sucht und haben will, einfach, weil es Schmerz ist.“Ziehe Wanderschu­he an, lausche dem Echo des wahrhaftig­en Satzes, den Vögeln, dem Bachgemurm­el, der Stille. Sehe der vergehende­n Zeit zu, bis mein Denken ob der Wahrnehmun­g wieder lebendig wird und die Welt sich atmet.

Geboren 1970 im Innviertel, arbeitet als freiberufl­iche Literatin in Niederöste­rreich; 2018 Writer in Residence in Pristina, Kosovo. Der Text ist ein Auszug aus der Ideennovel­le „Und behüte uns vor deinen Erinnerung­en. Oder: Poetisiert euch, verdammt!“.

 ?? [ Foto: Austrian Archives/Picturedes­k] ?? Die Tasse beharrt auf ihrer Daseinsges­chichte. Porzellan aus der „Schule Prof. Kolo Moser“, um 1900.
[ Foto: Austrian Archives/Picturedes­k] Die Tasse beharrt auf ihrer Daseinsges­chichte. Porzellan aus der „Schule Prof. Kolo Moser“, um 1900.
 ?? MARLEN SCHACHINGE­R ??
MARLEN SCHACHINGE­R

Newspapers in German

Newspapers from Austria