Poetisiert euch, verdammt!
Was wir erben, weil wir an Menschen wachsen, ist mehr, als wir je glauben würden. Es genügt sich weder im Haaransatz noch in einer empfindlichen Schulter links. Was wir erben, weil wir an jenen Menschen wachsen, die an unserer Seite leben, purzelt tagtäglich aus unseren Mündern, und es bedürfte durchaus der verlorenen Liebesmühe, sich von jener erlebten Sprache und ihren erfahrenen Sprechweisen zu verabschieden; sollte man dies wünschen – ich wüsste nicht, wieso, sind es doch weitere Varianten an Ausdrucksmöglichkeiten, die einem zur Verfügung stehen, so wie sich geerbte Tassen zu den anderen im Regal gesellen, alle Henkel griffbereit nach rechts gewandt. Eine, deren Goldstreif schon abgeschabt, trägt die Aufschrift „Gruß aus Obdach“. Der Finger kreist um den Rand, hält an jener Stelle inne, an der er von einem unachtsamen Tag erzählt, lange ist er her. Feines Gespinst in dunklem Tein zeigt sich im Inneren, wo die Glasur nach Generationen bereits rissig wurde. Doch auch an diesem Morgen wird gegen Natron Einspruch erhoben, das den Spuren zu Leibe rücken könnte, denn – fürwahr – die Tasse beharrt auf ihrer Daseinsgeschichte. Ich verstehe, ich verstehe, murmle ich. Wer viele Stunden eines Tages allein mit sich verbringt und dies Alleinsein nicht als Last empfindet, weil permanent Bücher zu einem sprechen, Fauna und Flora oder die Natur der Dinge, kennt diese Fähigkeit, sich ohne menschliches Gegenüber im leisen Gemurmel zu unterhalten. Unerfahrene nennen es Selbstgespräch. Und während meine Kinder darüber einst peinlich berührt die Augen verdrehten – wie Sie wohl soeben –, haben die letzten Jahre, die sie als Erwachsene nunmehr in eigenen Behausungen verbringen, dazu geführt, dass sie irgendwann auf ärgerliches Zungenschlagen vergaßen und nun gleichfalls ihre Umgebung im leisen Murmeln befragen . . . Ein Erbe meiner Mutter, sie ist die Meisterin der Familie darin. Und selbst bei ihrer Lieblingsbeschäftigung – dem Lesen – endet es nicht. Leise summen sich Romane vom Sofa fort, sodass ich manchmal in Erinnerung lächle, murmle ich mich durch meine Korrekturen – gerade laut genug, um den Klangraum zu prüfen . . .
Mir fiel diese auf dem Wachstumsweg mitgenommene Eigenheit bis in meine Jugendjahre nicht einmal als Sonderbarkeit auf, zu gewohnt, um am Tisch der Gepflogenheiten auf allgemeine Üblichkeit geprüft zu werden; vertraut wie Vaters Sprechen als religiöser Akt, in allen Belangen des Seins und der Welt, die ihm relevant dünken. Erst irritierte Blicke anderer erklärten solch Sprachgebaren zur Absonderlichkeit, und ihre Stimmen nannten „Macke“und „Meise“, was einem selbst zuvor gänzlich normal erschienen war. Oder hat man es diesbezüglich mit freundlicheren Zeitgenossinnen und belesenen Gentlemen zu tun, so nennen sie es einem eben „Spleen“: Wieso verlangsame sich plötzlich das Sprechtempo, warum der Wechsel in den Ton der Schrift, man habe doch gerade eben noch den Satz zum vorherigen Thema mit alten Ausdrücken der Region gewürzt?
Solch freundlicher Nachfrage kann in aller Ruhe geantwortet werden, dass jede Angelegenheit ihres Sprachkleides bedarf, und was für die eine stimmig ist, muss der anderen nicht zu Gesicht stehen. Auch dies: eine in ihrem Grundgedanken ererbte Sichtweise, die sich mit den Jahren und der konstanten Beschäftigung mit Sprache verfeinerte. Der Inhalt bestimmt die Form, und die gewählte Form – und eine Wahl soll sie immer bleiben – wirkt sich auf das Echo des Inhalts im Rezipierenden aus.
Worte sollen Klarheit bringen
Meines Vaters Sprechen in allen wichtigen Angelegenheiten des Lebens ging selbstbewusst davon aus, dass die Situation es gestatten werde, einen Gedanken allmählich Laut werden zu lassen – . . . weil das Ohr Muse hat und kein Mund sich erdreistet, mitten in sein Sprechen zu plappern. Und auch dessen war er gewiss: Dass die beiden immer füreinander da sein werden, das in sich ruhende Schweigen und der Gedanken Tiefe. Ist das Sprechen ein religiöser Akt, dem konzentrierten Lesen verwandt, wird es wahrlich zu einer Tat, weshalb es keineswegs obsolet ist, welchen Ausdruck man wählt, denn Worte sollen Klarheit bringen, damit sie nicht in den Wind gesprochen seien. Ein hoher Anspruch, dem sicher kein Mensch je genügt, aber lieber diesen als keinen, und die Zeit darf sich derweilen dehnen, und wenn alle Stricke reißen – mag durchaus ein vorheriger Satz oder zwei wiederholt werden. Wie bei Gertrude Stein, um mit so entstehendem Rhythmus der Rede zusätzliche Kraft zu verleihen: Ein Gedanke ist ein Gedanke ist ein Gedankengeschenk, und weil es Geschenk und keine Forderung ist, so mach danach du damit, was immer du willst. Es ist deine Freiheit, darüber nachzudenken oder den Gedanken zu vergessen, zu verwerfen gar.
Wer sein Wort nicht in den Wind säen will, der es verweht, bevor noch ein Ohr erreicht wird, und wer herkömmliche Sprechakte bedenkt, dem bleibt oft nur das Schweigen, mitunter: das Schreiben. Auch das: ein religiöser Akt, notierte Sylvia Plath und exemplifizierte, dass sie unter diesem Vorgang nicht die bloße Aneinanderreihung von Sätzen verstehe, um einen Inhalt voranzutreiben, sondern ein Ordnen, ein Reformieren, ein Wiederlernen und Wiederleben der Menschen und der Welt. Oder um es mit Marcel Proust zu sagen: ein Beleuchten, damit das Nicht-Gelebte, weil nie bewusst gewordene Sein, lebendig werde und in niedergeschriebenen Worten am Leben bleibe. Schreiben heißt Welt atmen, füge ich hinzu, es darf sich nicht im kleinen Ich erschöpfen. Wer Sprache und Literatur so sieht, wird den Gedanken nachvollziehen können, dass sie heilig sind und nicht dazu angetan, für die Hoffnung auf zwei- oder dreitausend Stück mehr an Auflage verschludert zu werden.
Was wir erben, weil wir an jenen, die an unserer Seite leben, wachsen, da ihre Berufe ihre Sprache prägten und sie uns diese weitergeben, ist mehr, als wir je für möglich halten würden, und wessen Vater nicht bloß Vater, sondern außerdem katholischer Priester ist – wiewohl ohne Amt –, der wächst damit auf, dass Sprache bedacht sein will, ja, dass sich beinahe alles bedenken lässt und einem zu allem ein Bibelzitat einfällt, mag man auch schon vor Ewigkeiten entschieden eigene Unterschrift auf das Papier gesetzt haben, welches den Austritt verkündet, weil vieles, was von der Amtskirche als Gerade gepredigt wird, einem krumm dünkt. Das Nachsinnen über die Prägung hingegen bleibt, und was wir erben, weil wir mit solchem Denken an unserer Seite studieren und lesen, ist mehr als wir glauben. So darf man sich nicht wundern, dass einem – bei etwas Musikalität – nach einem Wochenende im Ohrensessel in Gesellschaft einer Literatin, die aus dem neunzehnten Jahrhundert zu einem spricht, die eigenen Töne anders klingen. Ebenso, wer ihren Kollegen aus dem dreizehnten um einen Besuch bat. Wiewohl kaum einer in jener Zeit leben möchte, kann man sich doch an ihren Mären erfreuen, die sie dichteten, wenn sie als Ritter mit ihren Tagen nichts Besseres anzufangen wussten – glaubt man Hartmann von Aues „Iwein“. Dennoch wurde es ihnen kein Nebenher, denn sie trieben es mit „flˆız“voran, was nichts anderes als „Sorgfalt“bedeutet. Schließlich sollte es die Zuhörenden erfreuen und nicht in Ohren quälen. Wie reduziertes Vokabular, das sich in ewigem Gleichmaß dahinschleppt – es ermüdet bis zum Gähnen – und dann. Und dann. Und dann: eingeschlafen darob. Wecken wir die Leserin nicht auf. Besser ihr gleitet dies Druckwerk im Schlaf aus der Hand, schrammt sich eine Ecke, bevor es für
Wer viele Stunden eines Tages allein mit sich verbringt und dies Alleinsein nicht als Last empfindet, weil permanent Bücher zu einem sprechen, Fauna und Flora oder die Natur der Dinge, kennt diese Fähigkeit, sich ohne menschliches Gegenüber im leisen Gemurmel zu unterhalten. Unerfahrene nennen es Selbstgespräch. immer im Grab des Vergessen-Werdens geschlossen wird.
Wer vor der Literatur früherer Jahrhunderte nicht zurückschreckt, erbt – oft unbemerkt – ihren Reichtum, und so finden sich nach und nach manche Preziosen ein, um einem selbst fürderhin „normal“zu scheinen. Da hilft auch keine abwehrende Hand, höchstens eine ordnende. Schließlich geht es doch bei jedem Sprechen, jedem Schreiben um Kommunikation, und sollte ein Wort es einmal gar zu arg treiben, „Effeminiertheit“zum Beispiel oder „kuranzen“, lässt sich ihm mit einem Wörterbuch Abkühlung zu wedeln. Versuchen Sie es: Nur ein duftendes Wannenbad an Tagen stürmischer Unruhe ist ähnlich wohltuend wie eine Stunde absichtsloser Lektüre in diesen Schmökern. So wird einem bekannt, dass das Wort „Sermon“ursprünglich eine Wechselrede, ein Gespräch meinte, bevor sich die Predigt in den Vordergrund drängte, wie es ihre Art ist: Schließlich sei sie es ja, die öffentlich ausruft, feierlich verkündet. Das hat sie mit der Rede gemein; nicht aber mit dem Schreiben als Akt der Narration. Zeile um Zeile schreitet sie voran, und sie braucht die Zeit, nach der ihr Thema verlangt. Hetzen? Bekommt ihr nicht.
Und wer, so frage ich mich, wenn nicht eine Autorin, sollte versuchen, der Variantenarmut der Sprache unserer Zeit entgegenzutreten? Und weiß zugleich um das Etikett, das diesem Gedanken sogleich verpasst wird: schön, aber antiquiert. Ihnen sei mit Joseph Brodsky geantwortet: „Nur wenn man davon überzeugt ist, daß die Entwicklung des homo sapiens zum Stillstand kommen sollte, muß die Literatur die Sprache des Volkes sprechen. Andernfalls sollte das Volk die Sprache der Literatur sprechen.“Dafür bekam er einst den Nobelpreis, heute wird einem das Adjektiv „schwierig“umgehängt: Da müsse man sich ja anstrengen, beim Lesen.
Die Herausforderung des Denkens
Diese Aussage verstehe ich seit jeher so wenig wie Mathematikaufgaben, die das jährliche Baumwachstum bei durchschnittlicher Regenmenge berechnen wollen, ohne dass je gesagt wird, ob diesen Baum den Winter über jemand düngte, und wenn ja: Womit? Wo steht er, Südhang, im Tal, am Bach, ein Solitär? Artgerecht oder an einem Ort, an dem ihm rein gar nichts behagt? Fliegen dort noch Bienen? Hat ihn gar der Käfer befallen? Von welchem Baum sprechen wir überhaupt? Und wurde er im letzten Herbst beschnitten? Was in aller Welt soll man mit einer Rechenaufgabe anfangen, die einem nur die Hälfte der nötigen Ingredienzien offeriert? Oder mit einer ebensolchen Aussage! Denn „anstrengend“dünkt mir bei der Lektüre nur dann schlüssig, wenn die Lösung der Mühsal das Wiederfinden der verlegten Brille wäre. Zumeist referiert jene Äußerung jedoch nicht auf mangelnde Sehkraft, sondern bezieht sich auf die Herausforderung des Denkens, die als Überforderung energisch von sich gewiesen wird. Wieso sagt dann keine und keiner, man suche eine Lektüre, bei der es irrelevant sei, ob man 17 Seiten überfliege oder die Gedanken für 13 Minuten abdriften? Weshalb wünscht keine und keiner eine Wortsammlung zum Zeittotschlagen und schenkt so der Wahrheit die Ehre?
Wer dies möchte, dem empfehle ich „Lorem ipsum dolor sit amet . . .“. Das vermag fein durch jede Sanduhr zu rieseln, wird es halblaut in den Wind gesprochen, und irgendwann ist sicher jede Zeit tot, über diesem Blindtext der Setzer und Wortdruckerinnen, der sich einiger Bruchstücke aus Ciceros Nachdenken über den Schmerz bedient. Er hat seinen Sinn als Platzhalter, aber mir ist derjenige einer Nachricht lieber, mag sie mir auch befragungswürdig erscheinen: „Es gibt niemanden, der den Schmerz selbst liebt, der ihn sucht und haben will, einfach, weil es Schmerz ist.“Ziehe Wanderschuhe an, lausche dem Echo des wahrhaftigen Satzes, den Vögeln, dem Bachgemurmel, der Stille. Sehe der vergehenden Zeit zu, bis mein Denken ob der Wahrnehmung wieder lebendig wird und die Welt sich atmet.
Geboren 1970 im Innviertel, arbeitet als freiberufliche Literatin in Niederösterreich; 2018 Writer in Residence in Pristina, Kosovo. Der Text ist ein Auszug aus der Ideennovelle „Und behüte uns vor deinen Erinnerungen. Oder: Poetisiert euch, verdammt!“.