Ein Tag und noch ein Tag
Ein Debüt, das skrupulös um jedes Wort, um jedes Zeichen ringt: Lena-Marie Biertimpel erzählt in „Luftpolster“vom Alltag in einer psychiatrischen Klinik und dem zähen Ringen um Heilung.
Die Baumgartner Höhe. Jugendstilpavillons mit hohen Fenstern und Backsteinmauern. Verschlungene Wege unter Bäumen, die scheinbar immer schon da waren. Die von Otto Wagner mit einer goldenen Kuppel versehene Kirche am Steinhof. Aber auch: der Spiegelgrund. So geschichts- und kunstträchtig ist dieser Ort, dass die Rezensentin bei ihrem ersten Besuch in Wien einen ganzen Nachmittag dort verbrachte, sich darüber wundernd, dass man im Kiosk am Klinikgelände die Zigaretten einzeln kaufen konnte.
Thomas Bernhard hat über das Krankenhaus am Steinhof geschrieben, den Erzähler brachte ein schon in der Jugend erworbenes chronisches Lungenleiden auf die pulmologische Station – nebenan in der Psychiatrie: Wittgensteins Neffe. Und zuletzt hat Angela Lehner die Aura dieses Ortes genutzt: In ihrem gefinkelten Roman „Vater unser“wird eine junge Frau dort eingewiesen. Sie hat ein Attentat auf einen Kindergarten geplant. Eine mögliche Diagnose: Schizophrenie. Doch stimmt das überhaupt? Und was hat es mit dem Bruder auf sich, der dort schon länger behandelt wird?
Jetzt also Lena Marie-Biertimpel mit ihrem Debütroman „Luftpolster“. Als ihre IchErzählerin erstmals die Psychiatrie betritt, ist vom alten Charme des Jugendstil-Ensembles nicht mehr viel übrig. Der Speisesaal mit seiner Holzverkleidung wirkt, als hätte man dort seit den 1970er-Jahren nichts mehr verändert, an den ungeputzten Fenstern stehen Kunstblumen, die Tische fühlen sich an, als seien sie mit einer dünnen Schicht Öl bestrichen. „der plastikboden hält meine füße fest. ich stelle mir vor, wie bei jedem schritt ein bisschen hornhaut am boden kleben bleibt.“Kein schöner Ort, zumal der Pavillon, in dem sie zunächst untergebracht ist, geschlossen wird, und sie mit den anderen Patienten und Patientinnen umziehen muss – in ein neu errichtetes Gebäude, in dem es ständig dunkel ist, weil man die Rollos aus unerfindlichen Gründen nicht hochziehen kann.
Verätzte Stimmbänder
Trotzdem: Es ist ein Ort der Heilung. Keiner wundersamen Wiederauferstehung, sondern der schrittweisen, zähen, von vielen Rückschlägen geprägten Besserung. Davon berichtet der Roman, er tut es behutsam und in einer Sprache, die jedes Wort meidet, das zu viel sein könnte, ja jedes Zeichen. Es gibt kaum Großbuchstaben. Keine Anführungsstriche. Und manche Passagen sehen aus, als habe man es mit einem Gedicht zu tun – linksbündiger Flattersatz: „abends kommt eine schwester an mein bett und reicht mir ein glas wasser und eine tablette. / schlafenszeit, sagt sie./ ich schlucke.
Die junge Frau, deren Namen man nicht erfährt, hat sich selbst eingeliefert. Sie war Bulimikerin, so heftig, dass ihre Stimmbänder Verätzungen aufweisen. Nach der Diagnose des Phoniaters – sie wollte doch Schauspielerin werden! – hat sie zwar mit dem Kotzen aufgehört, aber sich in der Folge zugedröhnt und den Kummer weggetanzt. Der Exzess war ein Versuch der Selbstheilung, der scheiterte, scheitern musste, auch weil da noch eine – noch kränkere – Schwester ist: Sie hat versucht, sich umzubringen. Oder hat sie beim routinemäßigen Ritzen „nur“zu tief geschnitten? Unsere Protagonistin hat sie jedenfalls gefunden. Sie und das blutdurchtränkte Handtuch. Das war zu viel.
Zwei Schwestern gleichzeitig in der Psychiatrie, die eine in Wien, die andere in einer nicht näher definierten deutschen Hafenstadt. Was ist da passiert?
Wer jetzt die große Aufklärung, die heftige Abrechnung plus therapeutischem
Durchbruch erwartet, wird enttäuscht sein. Es ist ein besonderer Vorzug dieses Romans, dass er auch hier skrupulös bleibt. Ja, da gibt es den Vater, der die Tochter und ihre Freundinnen hänselte, bis ihr die Tränen kamen. War doch nur Spaß! Biertimpel erzählt von Überforderungen – als die Schwester zum zweiten Mal kurz vor dem Suizid steht, rufen die Eltern ausgerechnet die Protagonistin an: Sie soll entscheiden, was geschehen soll, dabei ringt sie doch selbst mit jedem neuen Tag. Erinnerungen an Gespräche über den Großvater tauchen auf: ein Schläger. Was hat der Krieg am Großvater verbrochen, was der wiederum am Vater, und was hat der Vater an die Kinder weitergegeben?
Aber da sind auch Zusammenhalt und Wärme, der Wunsch, einander nahe zu sein, da ist der Besuch der Eltern in Wien: „nach dem essen schlendern wir die straßen auf und ab, schauen uns schaufenster an und nehmen uns oft in den arm.“Schaut so eine dysfunktionale Familie aus?
Der Lieblingstherapeut
In den wohl reizvollsten Passagen des Buches beschreibt Biertimpel, die in Wien an der Angewandten Sprachkunst studiert, den Klinikalltag zwischen Frühsport und nächtlicher Medikamentenausgabe. Die Patientinnen tragen mintgrüne Jogginghosen, die Bettwäsche ist hellblau, und die junge Frau muss sich abmelden, wenn sie draußen eine Zigarette rauchen geht. Es gibt einen langen Gang, an dessen Ende ein Ledersofa steht, es gibt einen Lieblingstherapeuten, einen Lieblingsarzt, eine Schwester namens Carmen, und es gibt die anderen Patientinnen: Luzie weiß nicht genau, warum sie hier ist, aber sie vermutet, es liegt an den Engeln auf ihren Schulter, die Ärzte hätten etwas gegen sie. Bigmama besitzt einen Hund, um den sie sich Sorgen macht. Als wir sie kennenlernen weint sie, sie weint überhaupt sehr viel. Willie ist schön, hat grüne Augen und hört Cat Power. „ich gehe in den speisesaal, wenn ich glück habe, gibt es schon kaffee. Willie löst an einem der tische ihre kreuzworträtsel. sie sagt, das sei wie meditation. ich setze mich neben sie und lege den kopf auf ihre schulter. auch schon wach?, frage ich. scheiß nacht, sagt sie.“
In den letzten Jahren wurden viele Bücher geschrieben, die in der Psychiatrie spielen oder psychische Leiden behandeln – am musikalischsten und verschlüsseltsten in Barbara Riegers Roman „Bis ans Ende Marie“, am eindrücklichsten und ungefiltertsten wohl im literarischen Erfahrungsbericht „Die Welt im Rücken“von Thomas Melle. Annika Domainko schilderte den Alltag auf der Psychiatrie aus der Sicht des Pflegers. Und Ronja von Rönne hat – nicht ganz so überzeugend – zwei Lebensmüde auf einen Roadtrip geschickt. Biertimpel hat eine neue Facette hinzugefügt: die fast zarte Beschreibung dessen, was es braucht, damit ein Mensch sich wieder hinaustraut in die Welt.
Von Bettina Steiner