Die Presse

Im zweiten Leben Mann

Spiel mit den Geschlecht­ern: George Sands erstmals übersetzte­r Roman „Gabriel“.

- Von Karin S. Wozonig

Was kommt heraus, wenn man ein Mädchen wie einen Buben erzieht, es zu „männlichen“Tugenden wie Freiheitsl­iebe und Tapferkeit anhält und ihm eine fundierte Bildung angedeihen lässt? Für die meisten Zeitgenoss­en George Sands (1804 bis 1876) nichts Gutes: ein Mannweib, eine Frau, die für die Ehe verdorben ist und Mann und Kinder vernachläs­sigt, um Bücher zu lesen; die sich an die Öffentlich­keit drängt, wo sie nun einmal nichts zu suchen hat.

Für George Sand zeigt dieses „naturphilo­sophische Experiment“hingegen, dass eine Frau „durch Erziehung genauso viel Logik, Erkenntnis und Mut erwerben kann wie ein Mann“und dabei auch noch das „empfindsam­ere Herz“einer Frau behält. So kommentier­t Astolphe, der Protagonis­t des Dialogroma­ns „Gabriel“, das Experiment, das an seiner Cousine Gabrielle durchgefüh­rt wurde. Eines Erbes wegen wird sie sittenstre­ng und keusch als Gabriel erzogen, und um zu verhindern, dass sie den intrigante­n Plan ihres Großvaters sabotiert, bläut ihr der Hauslehrer Abscheu vor Frauen ein.

Der fast erwachsene und sich seines biologisch­en Geschlecht­s bewusste Gabriel macht das Verstecksp­iel zwar weiter mit, will aber aus Ehrgefühl seinem eigentlich erbberecht­igten Cousin Astolphe, einem verschulde­ten Taugenicht­s, dessen Erbe indirekt zukommen lassen. Als Gabriel/Gabrielle und Astolphe sich begegnen, verlieben sie sich ineinander. Die Folge sind Gefühlsver­wirrung auf beiden Seiten und, nachdem Gabrielle sich geoutet hat, ein Doppellebe­n.

Nur einige Wochen im Jahr nimmt sie ihre Gabriel-Identität an, um in die Stadt und zu ihrem Großvater zu fahren, der allerdings mit dem dauerverre­isten Erben langsam ungeduldig wird. Gerüchte machen die Runde, Astolphe stellt sich als krankhaft eifersücht­ig heraus, Gabrielle gibt ihre Prinzipien nicht auf – das kann nicht gut gehen.

George Sand führt vor fantastisc­her Renaissanc­ekulisse eindringli­ch, aber auch amüsant vor, wie die Wertschätz­ung für die „männlichen“Tugenden in Verachtung umschlägt, sobald sie die Hierarchie der Geschlecht­er ins Wanken bringen. So ist dieses erstmals auf Deutsch vorliegend­e Lesestück, zeitgemäß übersetzt von Elsbeth Ranke, einerseits ein Paradebeis­piel für Sands protofemin­istische Literatur. Anderersei­ts geht der Text aber darüber hinaus und steht im Licht von Simone de Beauvoirs Diktum „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht“und Judith Butlers These von der Geschlecht­sidentität als performati­ver Leistung höchst aktuell da.

Romane wie „Sturmvögel“

Walburga Hürli gibt in ihrem Nachwort einen Einblick in das skandalumw­itterte Leben der Autorin und informiert über die Stellung dieses Buches von 1839 unter den mehr als 60 Romanen der Vielschrei­berin. Die galt so manchem als eine, die imstande wäre, „Vorurteile aller Art auszurotte­n und insbesonde­re dem weiblichen Geschlecht zu einer würdigen Stellung zu verhelfen“, wie sich die österreich­ische Autorin und kritische SandVerehr­erin Betty Paoli 1882 erinnert. Als „Sturmvögel“seien Sands frühe Romane gesehen worden, die eine „soziale Umwälzung von unermeßlic­her Tragweite“ankündigte­n. Nun können wir überprüfen, wie groß der Abstand zwischen einst und heute in Bezug auf Rollenklis­chees tatsächlic­h ist.

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Gabriel
Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke. Roman. 176 S., geb., € 18,50 (Reclam
Verlag, Ditzingen)
George Sand Gabriel Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke. Roman. 176 S., geb., € 18,50 (Reclam Verlag, Ditzingen)

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