Das Ende der Welt kommt später
Seit zwei Jahrzehnten kennt man Georgi Gospodinov als einen, der mit allen Wassern der (postmodernen) Erzählkunst gewaschen ist, mit realen und imaginären Elementen zu spielen weiß und sich hervorragend auf die Verschränkung verschiedener Zeitebenen versteht. Als Spiegelfigur des Ich-Erzählers hat er Gaust´ın erfunden, der unter der Tarnkappe dieses Namens durch etliche seiner Bücher geistert. Mit diesem Instrumentarium ist Georgi Gospodinov hervorragend ausgerüstet für das Thema seines neuen Romans, „Zeitzuflucht“: die Demenz.
Gaust´ın flaniert durch Wien und fühlt sich in Liebe und Furcht hingezogen zu den Obdachlosen, weil er selbst ein Obdachloser in der Zeit und grundsätzlich „unzugehörig“ist. Von seinen Berufen praktiziert er gerade den des Alterspsychiaters und hat damit Erfolg, dass er eine Klinik für Demenzkranke in den Stilen verschiedener Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts einrichtet und so die Erinnerung seiner Patienten zu aktivieren vermag. Gaust´ın, „den ich mir zuerst ausdachte und später in Fleisch und Blut traf“, will den griechischen Philosophen Heraklit widerlegen: „Dass niemand zweimal in dieselbe Geschichte steigen kann, stimmt nicht. Es geht. Das werden wir machen.“
Von Anfang an faszinieren der Dialog zwischen dem Ich-Erzähler und Gaust´ın sowie die ironischen Anspielungen an die Weltliteratur – an Thomas Manns „Zauberberg“oder an den berühmten Anfang von Tolstois „Anna Karenina“, der so variiert wird: „Alle Geschichten, die stattgefunden haben, ähneln einander, jede Geschichte, die nicht stattgefunden hat, hat auf ihre eigene Art und Weise nicht stattgefunden.“Immer wieder kreist das Spiel des Romans mit Fakten und Fiktionen um die verschiedenen Vergangenheiten, und es ist erstaunlich, welch vielschichtige Fragen Gospodinov en passant aufwirft, etwa die nach einem Speicher der Gerüche, und warum diese nicht einfach Namen haben wie die Farben.
Es steckt so viel Liebe zu den Details in diesem Roman und so viel Verständnis für die Demenz-Krankheit – bis hin zu der wichtigen Frage: „Wie viel Vergangenheit kann ein Mensch eigentlich ertragen?“Und es sind so viele unvergessliche Geschichten eingelagert in den Erzählstrom: Da ist etwa Herr N., ein dementer Bulgare, für den sein ehemaliger Geheimdienstspitzel zum nächsten Menschen wird, weil nur er die Details seines Lebens kennt, die Herr N. nicht mehr zusammensetzen kann; und der Ex-Agent kann sich dabei versöhnen mit dem, was er getan hat.
Kein Wunder, dass Gaust´ıns Kliniken europaweit zu einer Mode werden, die ganze Gesellschaften und Staaten erfasst. In schwindelerregender Eile brechen Debatten los und werden opulente Reenactments historischer Ereignisse organisiert – in jedem
Wenn das Prädikat „europäischer Roman“überhaupt einen Sinn hat – auf Georgi Gospodinovs „Zeitzuflucht“trifft es zu. Der IchErzähler Gaust´ın flaniert durch Wien und fühlt sich zu den Obdachlosen hingezogen – er ist selbst ein Obdachloser in der Zeit. Grandiose Unterhaltung mit Aktivierung von Herz und Hirn.
Von Cornelius Hell
Staat muss schließlich abgestimmt werden, in welches Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts er zurückkatapultiert werden soll. Die Wiedergabe der Konflikte und Kontroversen, die dabei entstehen, ist nicht ganz frei von amüsanten Länderklischees, gibt aber ein treffendes Bild der Ungleichzeitigkeiten in Europa und der Befindlichkeiten seiner Gesellschaften. Dabei tritt nicht nur der gläserne Vorhang zwischen dem ehemaligen Osten und Westen zutage, auch die Unterschiedlichkeiten innerhalb dieser noch immer nachwirkenden Zweiteilung werden sichtbar.
Die groteske Instrumentalisierung diverser Wunsch-Vergangenheiten bekommt auch eine aktuelle politische Dimension, denn kein autoritäres Regime kommt ohne die Glorifizierung einer selektiv bestimmten Vergangenheit aus. Grell ins Auge sticht das in Putins Russland – und Georgi Gospodinov hat sich in der „Neuen Züricher Zeitung“auch dazu geäußert, dass die Dystopie seines Romans eine Warnung davor ist, was nun Wirklichkeit wurde: „Putin dreht die
Zeit eigenhändig zurück. Mit diesem Krieg wendet er das 21. zurück ins 20. Jahrhundert. Er entscheidet das nicht nur für sein Land, sondern auch für ganz Europa, vielleicht sogar für die ganze Welt.“
Freilich darf man diesen vielschichtigen Roman nicht so eindimensional lesen, dass man ihn auf diese Warnung verengt. „Roman und Erzählungen geben einen trügerischen Trost von Abfolge und Form“, schreibt Gospodinov im Epilog seiner „Zeitflucht“. Gegen diese Fiktion traditionellen Erzählens entwirft er eine Utopie: „Das wirklich mutige Buch, mutig und untröstlich zugleich, wäre das, in dem alle Geschichten, ob sie passiert sind oder nicht, um uns herum im Urchaos schwimmen, schreien und flüstern, flehen und kichern, sich begegnen und in der Dunkelheit aneinander vorbeigehen.“Man kann Georgi Gospodinov konzedieren, dass er dieser Utopie in seinem Erzählen sehr nahe gekommen ist.
Es ist mehr als erstaunlich, was dieser Autor in einem Roman von nicht einmal 350 Seiten alles an höchst realen wie grell absurden Binnengeschichten, an theoretischen Einsichten und Aperçus oder aphoristischen Diagnosen zu vereinen vermag; dass einem manche Details als aufmerksamer Gospodinov-Leser nicht ganz unbekannt sind, tut dem keinen Abbruch. Es fasziniert, wie sie in der Romanwelt auf-, aber nicht untergehen. Man kann seinem Autor nur zustimmen: „Das Ende eines Romans ist wie das Ende der Welt, es ist gut, es aufzuschieben.“
Solang man sich in dieser Romanwelt befindet, fragt man sich immer wieder auch nach dem eigenen Umgang mit der Vergangenheit, in welche Zeit man denn selbst am liebsten zurückkehren würde, und warum; und reflektiert unweigerlich die Vergangenheitspolitik seines eigenen Landes sowie jener Gesellschaften und Kulturen, mit denen man in Verbindung steht.
Wenn das Prädikat „europäischer Roman“überhaupt einen Sinn hat – auf Georgi Gospodinovs „Zeitzuflucht“trifft es zu. Jedenfalls gibt es nur wenige Bücher der letzten Jahre, die ein luzides Erzählspiel mit politischen Diagnosen so überzeugend verbinden, und wo grandiose Unterhaltung mit einer Aktivierung von Herz und Hirn der Leserin oder des Lesers einhergeht. Gegen individuelle wie kollektive Nostalgie leuchtet die Einsicht: „Ich erinnere mich, um die Vergangenheit in der Vergangenheit zu halten . . .“
Georgi Gospodinov
Aus dem Rumänischen von Alexander Sitzmann. Roman. 342 S., geb., € 24,70 (Aufbau Verlag, Berlin)