Venedig Revisited: Das Neue im Alten
Goethe schrieb in seiner „Italienischen Reise“, die ihn 1786 erstmals nach Venedig führte: „Von Venedig ist alles gesagt und gedruckt, was man sagen kann.“Dem wollen wir, bei allem Respekt vor dem Dichter und Italienkenner, widersprechen. Denn es gibt, auch wenn man die Lagunenstadt zu kennen glaubt, viel über sie gelesen und gehört hat, noch immer versteckte Winkel und Plätze. Um das Unentdeckte zu finden, hat es einen besonderen Reiz, ohne besondere Vorbereitung nach Venedig zu reisen und sich einfach treiben zu lassen.
Wir buchen lediglich eine Unterkunft in Venedig oder, besser noch, auf dem Lido, holen aber keine Tipps aus dem Netz und „Das musst du gesehen haben“Empfehlungen von Freunden und Bekannten ein, kaufen nicht den allumfassenden Reiseführer und bereiten uns auch nicht Tage davor schon auf die Reise vor, sondern lassen uns einfach von Lust und Laune leiten. Wir steigen auf ein Vaporetto, schippern ziellos dahin und verlassen es dort, wo es uns besonders behagt oder uns einfach der Name der Station anspricht. Ist man allerdings als kunstinteressierter Mensch in der Zeit der Kunstbiennale in Venedig (bis 27. 11.), dann sollten die Spielorte dieses großen Fests der Künste, die Giardini und das Arsenale, zumindest ein Dreh- und Angelpunkt für kleinere und größere Kreise sein.
Ruhiges Wohnen auf dem Lido
Unser Kurzzeit-Domizil befindet sich auf dem Lido, der nur mit dem Schiff erreichbaren lang gestreckten Insel in der Lagune von Venedig, abseits des Trubels. Sie ist der mittlere, Venedig vorgelagerte Teil einer Nehrung und mit dem Vaporetto vom Bahnhof aus oder, falls die Anreise mit dem Auto bevorzugt wird, via Fähre von der Insel Tronchetto aus zu erreichen. Schon die Überfahrt ist wegen der malerischen Fassaden der prächtigen Palazzi eine Freude für die Augen, und man kann sich auch als Wiederholungstäterin nicht sattsehen. Die Vorfreude wächst, nicht nur bei uns, sie lässt sich auch in den Gesichtern der anderen Reisenden ablesen.
Stadt und Strand
Es geht vorbei an Giudecca, dem lang gezogenen Streifen, bestehend aus neun durch breite Kanäle voneinander getrennten Einzelinseln, die südlich des Zentrums und somit des Markusplatzes liegen. Die Fähre, so man mit dem Auto unterwegs ist, legt am Lido bei der Haltestelle San Nicolo unweit der Vaporetto-Station Santa Maria Elisabetta, kurz SME, an. Auf der Insel lassen sich viele Unterkünfte entweder zu Fuß oder, wenn doch weiter entfernt, mit dem Bus gut erreichen. Eine besondere Mischung aus Lagunen-Stadtbesichtigung und Strandurlaub erwartet einen.
Der erste Ausflug treibt uns mit dem Vaporetto vom Lido kommend bei Sant’Elena vorbei zur Station Celestia. Wir wollen, nun doch ein Ziel vor Augen, die temporäre Außenstelle des Kunsthauses Bregenz (KUB) besuchen, die während der Biennale ganz in der Nähe in die Scuola di San Pasquale im Viertel Castello eingemietet ist. Die Scuola liegt an einem beschaulichen Platz. Auf dem Weg dorthin begegnen wir, ganz außerordentlich für Venedig, nur wenigen Menschen. Wir schlendern durch eine Wohnsiedlung, entdecken ein halb offenes Tor, das einen heimlichen Einblick ermöglicht. Die Gebäude von Patronato San Francesco mit dem hohen, weit über das Stadtviertel hinaus sichtbaren Turm verbergen sich dahinter. „Johann Wolfgang“, denken wir stolz bei uns, „das hast du bei deiner Italienischen Reise nicht entdeckt.“
Schachfiguren in der Kirche
Schmale verwinkelte Gassen führen uns schließlich zur Scuola. In ihrem Obergeschoß kann man angesichts eines raumfüllenden Schachspiels der ägyptisch-kanadischen Künstlerin Anna Boghiguian – nein, nicht Berufe, sondern Figuren raten. Mehrheitlich sind österreichische Protagonisten als bunte Pappfiguren dargestellt. Wir erkennen Felix Salten, den Autor von „Bambi“, den Vater des Zionismus, Theodor Herzl, den Maler Egon Schiele oder Aribert Heim – besser bekannt als Dr. Tod –, der sich in der Zeit des Nationalsozialismus durch besondere Grausamkeit hervorgetan hat, um nur einige der 15 Figuren zu nennen.
Im Erdgeschoß der Scuola hängt eine in leuchtenden Farben funkelnde, riesige Tapisserie der nigerianischen Künstlerin Otobong Nkanga. Sie hat eigens für den Ort eine Klanginstallation kreiert – mit ihrer Stimme nimmt sie auf das Leben der Pflanzen und die Ausbeutung der Natur Bezug.
Der Platz vor der Scuola di San Pasquale ist mit großen Steinquadern gepflastert und beinahe schattenfrei. Ganz in der Nähe finden wir dann ein kühles, ruhiges Plätzchen – die Arkaden des Nonnenklosters Convento Reverendi Padri Francescani in der Calle Seconda de la Fava. Das Kloster, so hören wir, ist noch aktiv, und die Arkaden sind nur selten für die Öffentlichkeit zugänglich. Wir haben Glück, das Tor ist offen. Direkt in den Gängen am Boden eingelassen gibt es eine Reihe alter Grabplatten, deren Inschriften wir zu entziffern versuchen, auch wenn sie schon sehr verwittert sind. Leben und Tod sind besonders hier, in Venedig, voller Rätsel.
Von dort geht man rund 30 Minuten über das Areal der Arsenale durch teils enge, leere Gassen zu den Giardini della Biennale. Ein schöner, beschaulicher Fußmarsch ohne Touristenströme. Hier lohnt es sich besonders, immer wieder nach oben zu blicken und die steinernen Figuren auf den Häusern
Italien. An kaum einer Stadt hat sich die Welt mehr abgearbeitet als an Venedig. Und doch tun sich immer wieder Entdeckungen auf. Kleine Anleitung zum Treibenlassen.