Boomtown mit Schönheitsfehlern
Kanada. Weltoffen, sprudelnd, kunterbunt und sich rasch verändernd: Das alles ist Toronto, die Hauptstadt der kanadischen Provinz Ontario. Doch da sind auch Schatten.
Man müsse nur an Jesus glauben, brüllt ein Mann in sein Mikrofon, dann brauche man keine Impfung. Niemand beachtet ihn. Ein anderer Mann hält ein Schild hoch, Chinas Kommunistische Partei sei die Wurzel allen Übels. Bei ihm bleibt immerhin ein Passant stehen.
Willkommen auf dem YongeDundas Square, Torontos wohl quirligsten Platz am Kreuzungspunkt der gleichnamigen Straßen. Ganz sicher ist das nicht der schönste Platz der Drei-MillionenStadt, doch nirgends sprudelt das Leben so wie hier. „Fortune Favours the Brave“, den Mutigen helfe das Glück, verspricht ein Kryptowährungsanbieter auf einem der gigantischen Überkopf-Videoschirme. Auch sie beachtet niemand. Vielleicht liegt das am Duft des schweren Cannabis in der Luft. 2018 wurde es in Kanada legalisiert, seither riecht man es überall – auch und gerade im Büroviertel.
Alles locker
Der erste Eindruck: In Toronto tummelt sich eine kunterbunte Gesellschaft. Rassen, Religionen, sexuelle Orientierungen, alle sind willkommen, alle „können“miteinander. In einem Handyshop arbeiten ein afrikastämmiger Manager, eine kopftuchtragende Muslima und ein Kollege indischer Herkunft in schönster Eintracht zusammen. Besser lässt sich die friedliche Koexistenz nicht beschreiben.
Auch die „Body Positivity“Bewegung fiel hier auf fruchtbarsten Boden. Groß, klein, dick, dünn, alt, jung, jeder ist gut, wie er ist. Man spürt es an neugieriger Offenheit, sympathischem Selbstbewusstsein
und fröhlichem Modemut – auch ohne Modelmaße.
Ja, aber?
Der zweite Blick ist nicht so erfreulich. In ebenjenen Handyshop gelangt man nur nach strenger Security-Inspektion. „Manchmal geht es rau zu“, kommentiert die muskulöse Wachfrau und deutet auf die „homeless people“vor der Tür. Am Yonge-Dundas Square und im südlich davon liegenden Finanz-, Verwaltungs- und Bürodistrikt lungern auffallend viele Obdachlose herum, übernachten und wärmen sich auf den U-Bahn-Abluftgittern. Auch sie umweht Cannabisnebel. Nicht wenige haben erkennbar psychische Probleme, schreien oder attackieren Passanten. Man geht ihnen aus dem Weg.
Dennoch, die Annäherung an Toronto muss genau hier starten, auf dem schrillsten Platz. Ab jetzt wird es ruhiger. Ein paar Schritte nördlich beginnt das Revier der Ryerson-Studenten. 36.000 sind es derzeit, sie brauchen mehr Platz, also wird der ohnehin schon gewaltige City-Campus laufend um neue, interessante Gebäude erweitert. Der Vollständigkeit halber: Die altehrwürdige University of Toronto nur gut einen Kilometer nordwestlich ist mit 62.000 Studenten noch größer. Der Stadt mangelt es nicht an jungen Leuten.
Die University of Toronto ist gediegen, Konkurrent Ryerson trumpft mit Zeitgeist auf. Jüngstes Prachtstück ist das ultramoderne Student Learning Center gleich hinter dem Yonge-Dundas Square, sechs Stockwerke in bester Lage nur zum Lernen. Jeder Stock hat eine andere Widmung: Lernen allein, Lernen in Gruppen, mit Tutoren, im Team in Seminarräumen, jedenfalls mit einem technischen
Equipment, von dem heimische Unis nur träumen können.
Nur wenige Blocks weiter nördlich, Ecke Church und Carlton Street, liegt das Mattamy Athletic Center. Eissportfans bekommen jetzt leuchtende Augen: Bis 1999 war die Eiskathedrale unter dem Namen Maple Leaf Gardens die Heimat der Toronto Maple Leafs und der Hockey-Nationalliga. Jetzt gehört auch sie den RyersonSportstudenten und ihrem Hockeyteam, den Ryerson Rams. 13 Jahre dauerte der Umbau, die Eisfläche übersiedelte vom untersten in den obersten Stock direkt unter die gewaltige Kuppel. Die anderen Geschoße gehören den Studenten anderer Sportarten. Nur ganz unten durfte sich ein Supermarkt einmieten. Der Tempel muss finanziert werden.
Doch die Uni hat im Moment andere Sorgen. Ihr Gründer, Egerton Ryerson (1803–1882), war maßgeblich an den Residential
Schools beteiligt. Die kommen nicht aus den Schlagzeilen heraus: Kinder der Ureinwohner, der „First Nations“, wurden ihren Eltern weggenommen und sollten dort zu strammen Kanadiern „umerzogen“werden. Alle paar Monate findet man irgendwo im Land ein neues Massengrab der Unglücklichen, die das nicht überlebten. Ryerson ist damit als Namenspatron der Universität nicht mehr tragbar. Die Umbenennung wird Millionen kosten. Das nächste Gebäude muss wohl warten.
Boomtown Toronto
Bis zur Pandemie entwickelte sich Toronto in Riesenschritten. Stadt und Umland wuchsen rasant: 130.000 der 400.000 kanadischen Einwanderer jährlich nahmen sie mit offenen Armen auf. Doch in den vergangenen beiden Jahren ließen die Behörden niemanden ins Land. Den Rückstau auf dem Arbeitsmarkt spürt man an allen Ecken und Enden, der Fachkräftemangel schmerzt in der Boomtown noch mehr als anderswo.
Doug Ford jr., seit 2018 Gouverneur der Provinz Ontario, nützte den pandemiebedingten Stillstand für ein höchst ambitioniertes Modernisierungsprogramm. Böse Zungen behaupten, er wolle sich damit nur selbst ein Denkmal setzen, doch die Stadt braucht tatsächlich dringend einen Innovationsschub. Die Infrastruktur ist in die Jahre gekommen.
Jetzt schießen überall Hochhäuser aus dem Boden, werden unterirdische Straßenbahntunnel gebohrt (für U-Bahnen reicht das Geld nicht aus) und neue Leitungen verlegt. Das wäre begrüßenswert, würden sich die Hochhäuser ins Stadtbild fügen. Das ist fast kleinstädtisch, kaum dass man Downtown verlässt. Zwar sind die Main Streets breit und für Nordamerika typisch verlässlich NordSüd oder West-Ost ausgerichtet, jedoch von putzigen hölzernen Zweifamilienhäusern mit handtuchgroßen Gärtchen gesäumt. An den Hauptstraßen sind sie ein wenig vernachlässigt, in den Seitengassen nett und gepflegt. Wo die Häuschen sichtlich verfallen, weiß man: Hier wird bald gebaut – etwas Großes, ein Hochhausklotz, ein Fremdkörper. Wenn aber dort, wo vorher ein paar Dutzend Familien lebten, ein Ungetüm mit Hunderten Wohnungen aus dem Boden gestampft wird, verkraften das Kanalisation, Leitungen und Parkraum nicht allzu gut.
In der Nachbarschaft
Doch darum muss sich der geneigte Spaziergänger nicht kümmern. Wer gut zu Fuß ist, durchwandert an einem Tag mehrere Grätzel,
Neighbourhoods, wie die Sammelpunkte der unterschiedlichen Ethnien genannt werden. Chinatown geht nahtlos in den alternativen Multikulti-Hotspot Kensington Market über, zwischen Little Italy und Little Portugal liegt nur der Trinity Bellwoods Park, und dass man Little Portugal wieder verlässt, erkennt man an der plötzlichen Häufung tibetanischer Restaurants. Richtig, jetzt ist man in Little Tibet.
Wandert man noch weiter nach Westen, blitzt Wasser zwischen den Häusern auf. Jetzt hat man das Ufer des Lake Ontario erreicht, das hier zum Naherholungsgebiet ausgebaut und besonders zu Sonnenuntergang sehr zu empfehlen ist.
Ein neuer Geheimtipp gleich daneben ist Roncesvalles, das Viertel
der polnischen und osteuropäischen Einwanderer. Generell gilt: Sehenswürdigkeiten darf man sich in diesen Neighbourhoods nicht erwarten, aber gute Stimmung und viel Lokalkolorit. So sind denn auch die größten Attraktionen der Roncesvalles Avenue eine Kirche mit regenbogenfarbenen Stufen (ja, es ist ein Statement) und viel hübsche Graffiti. Die netten Stunden in den Shops und Lokalen will man sicher nicht missen. Für Insider: Die Fassade eines Lokals sagt nichts über die Qualität des Essens aus. Im Gegenteil, gerade in den Neighbourhoods verstecken sich die besten Restaurants hinter den unscheinbarsten Fassaden.
Ab ins Museum
Einen Regenschirm sollte man immer dabei haben. Regnet es einmal länger – manchmal schüttet es auch –, geht man eben ins Museum. Freunde zeitgenössischer Kunst zieht es in die Art Gallery of Ontario, Besucher des Royal Ontario Museum diskutieren seinen zackigen Zubau (Architektur von Daniel Libeskind) oder staunen über die vielen Dino-Skelette im Inneren. Kinder jeden Alters haben ihre helle Freude in Ripley’s Aquarium of Canada, obwohl: Das Wiener Haus des Meeres bietet mehr.
Etwas eigenwillig ist die Casa Loma im Norden Downtowns. Ihr Erbauer, Sir Henry Mill Pellatt (1859–1939), war ein waghalsiger Investor. Was er angriff, wurde ein Erfolg – anfangs: die erste elektrische Straßenbeleuchtung Torontos oder das Wasserkraftwerk an den Niagarafällen. 1905 adelte ihn die Queen für seine Verdienste. Sich im Besitz unermesslicher Reichtümer wähnend, gab Pellatt die Casa Loma in Auftrag, ein heillos überdimensioniertes Schloss im Edwardianischen Stil. Ein paar rauschende Feste später war er bankrott.
Die Casa Loma ist heute ein Luxushotel. Manche Teile sind öffentlich zugänglich, in den beiden Türmen kann man bei atmosphärisch dichten Escape Room Games mitmachen. Regelmäßig dient die Anlage auch als Filmset. Wer beim Vorübergehen plötzlich den „Time Warp“im Ohr hat: Hier wurden die „Rocky Horror Picture Show“gedreht, „X Men“, „Studio 54“, das Musical „Chicago“und viele mehr.
Aufmerksamen Besuchern wird die Ähnlichkeit der Casa Loma zum Alten Rathaus Torontos nicht entgehen. Richtig, beide wuchtigen Gebäude tragen die Handschrift desselben Architekten, E. J. Lennox. Genauso klobig wirkt das Ontario Parliament Building, mit dem die Provinz 1893 ihre relative Kleinheit kompensieren wollte. Ein weiterer Bau wird Wienern bekannt vorkommen: Die geschwungenen Betonburgen am tausendfach fotografierten Nathan Phillips Square erinnern frappant an die UNO-City in der Donaustadt.
Den CN Tower zum Schluss
Das unumstrittene Wahrzeichen Torontos ist der 553 Meter hohe CN Tower. Ihn sollte man sich für einen strahlend blauen Tag und für den Schluss dieses Citytrips aufheben. Erst nachdem man alles durchwandert hat, findet man sich auch von oben zurecht und freut sich, jedes größere Bauwerk wiederzuerkennen. Es macht auch nichts, wenn man auf den viel beworbenen Nervenkitzel, den Spaziergang im Freien, angeseilt in luftiger Höhe, verzichtet – der CN Tower ist seinen geschmalzenen Eintrittspreis jedenfalls wert. Denn erst von da oben stellt man fest, wie lieb man die Stadt da unten gewonnen hat.