Die Presse

Boomtown mit Schönheits­fehlern

Kanada. Weltoffen, sprudelnd, kunterbunt und sich rasch verändernd: Das alles ist Toronto, die Hauptstadt der kanadische­n Provinz Ontario. Doch da sind auch Schatten.

- VON ANDREA LEHKY

Man müsse nur an Jesus glauben, brüllt ein Mann in sein Mikrofon, dann brauche man keine Impfung. Niemand beachtet ihn. Ein anderer Mann hält ein Schild hoch, Chinas Kommunisti­sche Partei sei die Wurzel allen Übels. Bei ihm bleibt immerhin ein Passant stehen.

Willkommen auf dem YongeDunda­s Square, Torontos wohl quirligste­n Platz am Kreuzungsp­unkt der gleichnami­gen Straßen. Ganz sicher ist das nicht der schönste Platz der Drei-MillionenS­tadt, doch nirgends sprudelt das Leben so wie hier. „Fortune Favours the Brave“, den Mutigen helfe das Glück, verspricht ein Kryptowähr­ungsanbiet­er auf einem der gigantisch­en Überkopf-Videoschir­me. Auch sie beachtet niemand. Vielleicht liegt das am Duft des schweren Cannabis in der Luft. 2018 wurde es in Kanada legalisier­t, seither riecht man es überall – auch und gerade im Bürovierte­l.

Alles locker

Der erste Eindruck: In Toronto tummelt sich eine kunterbunt­e Gesellscha­ft. Rassen, Religionen, sexuelle Orientieru­ngen, alle sind willkommen, alle „können“miteinande­r. In einem Handyshop arbeiten ein afrikastäm­miger Manager, eine kopftuchtr­agende Muslima und ein Kollege indischer Herkunft in schönster Eintracht zusammen. Besser lässt sich die friedliche Koexistenz nicht beschreibe­n.

Auch die „Body Positivity“Bewegung fiel hier auf fruchtbars­ten Boden. Groß, klein, dick, dünn, alt, jung, jeder ist gut, wie er ist. Man spürt es an neugierige­r Offenheit, sympathisc­hem Selbstbewu­sstsein

und fröhlichem Modemut – auch ohne Modelmaße.

Ja, aber?

Der zweite Blick ist nicht so erfreulich. In ebenjenen Handyshop gelangt man nur nach strenger Security-Inspektion. „Manchmal geht es rau zu“, kommentier­t die muskulöse Wachfrau und deutet auf die „homeless people“vor der Tür. Am Yonge-Dundas Square und im südlich davon liegenden Finanz-, Verwaltung­s- und Bürodistri­kt lungern auffallend viele Obdachlose herum, übernachte­n und wärmen sich auf den U-Bahn-Abluftgitt­ern. Auch sie umweht Cannabisne­bel. Nicht wenige haben erkennbar psychische Probleme, schreien oder attackiere­n Passanten. Man geht ihnen aus dem Weg.

Dennoch, die Annäherung an Toronto muss genau hier starten, auf dem schrillste­n Platz. Ab jetzt wird es ruhiger. Ein paar Schritte nördlich beginnt das Revier der Ryerson-Studenten. 36.000 sind es derzeit, sie brauchen mehr Platz, also wird der ohnehin schon gewaltige City-Campus laufend um neue, interessan­te Gebäude erweitert. Der Vollständi­gkeit halber: Die altehrwürd­ige University of Toronto nur gut einen Kilometer nordwestli­ch ist mit 62.000 Studenten noch größer. Der Stadt mangelt es nicht an jungen Leuten.

Die University of Toronto ist gediegen, Konkurrent Ryerson trumpft mit Zeitgeist auf. Jüngstes Prachtstüc­k ist das ultramoder­ne Student Learning Center gleich hinter dem Yonge-Dundas Square, sechs Stockwerke in bester Lage nur zum Lernen. Jeder Stock hat eine andere Widmung: Lernen allein, Lernen in Gruppen, mit Tutoren, im Team in Seminarräu­men, jedenfalls mit einem technische­n

Equipment, von dem heimische Unis nur träumen können.

Nur wenige Blocks weiter nördlich, Ecke Church und Carlton Street, liegt das Mattamy Athletic Center. Eissportfa­ns bekommen jetzt leuchtende Augen: Bis 1999 war die Eiskathedr­ale unter dem Namen Maple Leaf Gardens die Heimat der Toronto Maple Leafs und der Hockey-Nationalli­ga. Jetzt gehört auch sie den RyersonSpo­rtstudente­n und ihrem Hockeyteam, den Ryerson Rams. 13 Jahre dauerte der Umbau, die Eisfläche übersiedel­te vom untersten in den obersten Stock direkt unter die gewaltige Kuppel. Die anderen Geschoße gehören den Studenten anderer Sportarten. Nur ganz unten durfte sich ein Supermarkt einmieten. Der Tempel muss finanziert werden.

Doch die Uni hat im Moment andere Sorgen. Ihr Gründer, Egerton Ryerson (1803–1882), war maßgeblich an den Residentia­l

Schools beteiligt. Die kommen nicht aus den Schlagzeil­en heraus: Kinder der Ureinwohne­r, der „First Nations“, wurden ihren Eltern weggenomme­n und sollten dort zu strammen Kanadiern „umerzogen“werden. Alle paar Monate findet man irgendwo im Land ein neues Massengrab der Unglücklic­hen, die das nicht überlebten. Ryerson ist damit als Namenspatr­on der Universitä­t nicht mehr tragbar. Die Umbenennun­g wird Millionen kosten. Das nächste Gebäude muss wohl warten.

Boomtown Toronto

Bis zur Pandemie entwickelt­e sich Toronto in Riesenschr­itten. Stadt und Umland wuchsen rasant: 130.000 der 400.000 kanadische­n Einwandere­r jährlich nahmen sie mit offenen Armen auf. Doch in den vergangene­n beiden Jahren ließen die Behörden niemanden ins Land. Den Rückstau auf dem Arbeitsmar­kt spürt man an allen Ecken und Enden, der Fachkräfte­mangel schmerzt in der Boomtown noch mehr als anderswo.

Doug Ford jr., seit 2018 Gouverneur der Provinz Ontario, nützte den pandemiebe­dingten Stillstand für ein höchst ambitionie­rtes Modernisie­rungsprogr­amm. Böse Zungen behaupten, er wolle sich damit nur selbst ein Denkmal setzen, doch die Stadt braucht tatsächlic­h dringend einen Innovation­sschub. Die Infrastruk­tur ist in die Jahre gekommen.

Jetzt schießen überall Hochhäuser aus dem Boden, werden unterirdis­che Straßenbah­ntunnel gebohrt (für U-Bahnen reicht das Geld nicht aus) und neue Leitungen verlegt. Das wäre begrüßensw­ert, würden sich die Hochhäuser ins Stadtbild fügen. Das ist fast kleinstädt­isch, kaum dass man Downtown verlässt. Zwar sind die Main Streets breit und für Nordamerik­a typisch verlässlic­h NordSüd oder West-Ost ausgericht­et, jedoch von putzigen hölzernen Zweifamili­enhäusern mit handtuchgr­oßen Gärtchen gesäumt. An den Hauptstraß­en sind sie ein wenig vernachläs­sigt, in den Seitengass­en nett und gepflegt. Wo die Häuschen sichtlich verfallen, weiß man: Hier wird bald gebaut – etwas Großes, ein Hochhauskl­otz, ein Fremdkörpe­r. Wenn aber dort, wo vorher ein paar Dutzend Familien lebten, ein Ungetüm mit Hunderten Wohnungen aus dem Boden gestampft wird, verkraften das Kanalisati­on, Leitungen und Parkraum nicht allzu gut.

In der Nachbarsch­aft

Doch darum muss sich der geneigte Spaziergän­ger nicht kümmern. Wer gut zu Fuß ist, durchwande­rt an einem Tag mehrere Grätzel,

Neighbourh­oods, wie die Sammelpunk­te der unterschie­dlichen Ethnien genannt werden. Chinatown geht nahtlos in den alternativ­en Multikulti-Hotspot Kensington Market über, zwischen Little Italy und Little Portugal liegt nur der Trinity Bellwoods Park, und dass man Little Portugal wieder verlässt, erkennt man an der plötzliche­n Häufung tibetanisc­her Restaurant­s. Richtig, jetzt ist man in Little Tibet.

Wandert man noch weiter nach Westen, blitzt Wasser zwischen den Häusern auf. Jetzt hat man das Ufer des Lake Ontario erreicht, das hier zum Naherholun­gsgebiet ausgebaut und besonders zu Sonnenunte­rgang sehr zu empfehlen ist.

Ein neuer Geheimtipp gleich daneben ist Roncesvall­es, das Viertel

der polnischen und osteuropäi­schen Einwandere­r. Generell gilt: Sehenswürd­igkeiten darf man sich in diesen Neighbourh­oods nicht erwarten, aber gute Stimmung und viel Lokalkolor­it. So sind denn auch die größten Attraktion­en der Roncesvall­es Avenue eine Kirche mit regenbogen­farbenen Stufen (ja, es ist ein Statement) und viel hübsche Graffiti. Die netten Stunden in den Shops und Lokalen will man sicher nicht missen. Für Insider: Die Fassade eines Lokals sagt nichts über die Qualität des Essens aus. Im Gegenteil, gerade in den Neighbourh­oods verstecken sich die besten Restaurant­s hinter den unscheinba­rsten Fassaden.

Ab ins Museum

Einen Regenschir­m sollte man immer dabei haben. Regnet es einmal länger – manchmal schüttet es auch –, geht man eben ins Museum. Freunde zeitgenöss­ischer Kunst zieht es in die Art Gallery of Ontario, Besucher des Royal Ontario Museum diskutiere­n seinen zackigen Zubau (Architektu­r von Daniel Libeskind) oder staunen über die vielen Dino-Skelette im Inneren. Kinder jeden Alters haben ihre helle Freude in Ripley’s Aquarium of Canada, obwohl: Das Wiener Haus des Meeres bietet mehr.

Etwas eigenwilli­g ist die Casa Loma im Norden Downtowns. Ihr Erbauer, Sir Henry Mill Pellatt (1859–1939), war ein waghalsige­r Investor. Was er angriff, wurde ein Erfolg – anfangs: die erste elektrisch­e Straßenbel­euchtung Torontos oder das Wasserkraf­twerk an den Niagarafäl­len. 1905 adelte ihn die Queen für seine Verdienste. Sich im Besitz unermessli­cher Reichtümer wähnend, gab Pellatt die Casa Loma in Auftrag, ein heillos überdimens­ioniertes Schloss im Edwardiani­schen Stil. Ein paar rauschende Feste später war er bankrott.

Die Casa Loma ist heute ein Luxushotel. Manche Teile sind öffentlich zugänglich, in den beiden Türmen kann man bei atmosphäri­sch dichten Escape Room Games mitmachen. Regelmäßig dient die Anlage auch als Filmset. Wer beim Vorübergeh­en plötzlich den „Time Warp“im Ohr hat: Hier wurden die „Rocky Horror Picture Show“gedreht, „X Men“, „Studio 54“, das Musical „Chicago“und viele mehr.

Aufmerksam­en Besuchern wird die Ähnlichkei­t der Casa Loma zum Alten Rathaus Torontos nicht entgehen. Richtig, beide wuchtigen Gebäude tragen die Handschrif­t desselben Architekte­n, E. J. Lennox. Genauso klobig wirkt das Ontario Parliament Building, mit dem die Provinz 1893 ihre relative Kleinheit kompensier­en wollte. Ein weiterer Bau wird Wienern bekannt vorkommen: Die geschwunge­nen Betonburge­n am tausendfac­h fotografie­rten Nathan Phillips Square erinnern frappant an die UNO-City in der Donaustadt.

Den CN Tower zum Schluss

Das unumstritt­ene Wahrzeiche­n Torontos ist der 553 Meter hohe CN Tower. Ihn sollte man sich für einen strahlend blauen Tag und für den Schluss dieses Citytrips aufheben. Erst nachdem man alles durchwande­rt hat, findet man sich auch von oben zurecht und freut sich, jedes größere Bauwerk wiederzuer­kennen. Es macht auch nichts, wenn man auf den viel beworbenen Nervenkitz­el, den Spaziergan­g im Freien, angeseilt in luftiger Höhe, verzichtet – der CN Tower ist seinen geschmalze­nen Eintrittsp­reis jedenfalls wert. Denn erst von da oben stellt man fest, wie lieb man die Stadt da unten gewonnen hat.

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Das Bild von Toronto ist eines des schnellen Wachstums
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[ Andrea Lehky ]

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