Die Presse

Die russische Wende im Donbass

Krieg. Wladimir Putins Truppen sind in Teilen des Donbass im Vormarsch. Den ukrainisch­en Truppen droht ohne taktischen Rückzug die Puste auszugehen, fürchtet ein Experte.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Wien/Kiew. Die Luftbilder zeigen grüne und braune Äcker. Es sind Schlachtfe­lder im Wortsinn. Sie sind mit Kratern übersät. Dann blitzen Feuerbälle auf. Im Hintergrun­d dröhnt Heavy-Metal-Musik. Russland setzt nicht nur geächtete thermische Waffen ein. Es prahlt damit auch in Propaganda­videos. Diese Vakuumbomb­en, abgefeuert von TOS1-Raketenwer­fern, wirken auf zwei Arten: Die Druckwelle saugt die Luft aus der Lunge. Das Organ koll abiert. Und in ein em Radius von 25 Metern herrschen für eineinhalb Sekunden Temperatur­en von 1400 Grad Celsius. Man nennt sie auch Putins „Höllenwaff­en“. „Die nächste Eskalation­sstufe wäre schon der Einsatz taktischer Atomwaffen“, sagt Oberst Markus Reisner zur „Presse“.

Russland verheert den Donbass. Aber es hat dabei Erfolg. Seine Truppen sind im Vormarsch. Sie haben das Momentum. „Es läuft für Putin“, fasste neulich der deutsche Militärexp­erte Carlo Marsala zusammen. Und der ukrainisch­e Präsident, Wolodymyr Selenskij, bezeichnet­e die Lage im Osten der Ukraine als „unbeschrei­blich schwierig“. Vielleicht auch, um seinen Landsleute­n Mut einzuflöße­n, wagte er am Sonntag die erste Reise außerhalb der Hauptstadt­region. „Wir verteidige­n unser Land bis zum letzten Mann!“, verkündete er in schusssich­erer Weste beim Besuch in Charkiw, der kriegsvers­ehrten zweitgrößt­en Stadt der Ukraine, die nordwestli­ch des Donbass liegt, wo die Russen in diesen Tagen offenbar die Oberhand gewinnen.

Experte Reisner spricht vom Beginn einer neuen Phase. Die erste war der Großangrif­f am 24. Februar, auch auf die Hauptstadt, den die Ukrainer abgewehrt haben. Die „zweite Phase“der Krieg im Osten, wie er „hin und her wogte“. Dieses Wochenende, Tag 94 und 95 des Kriegs, markiere so gesehen den Beginn von Phase drei: „Die Russen haben zumindest lokal wieder die Initiative.“

„Siesch ießen die Stellungen sturmreif“

Die Ukrainer hatten sich im Donbass eingegrabe­n. Sie verteidige­n ihre Stellungen tapfer und zäh. Aber die russische Artillerie zermürbt sie: „Russland schießt eine nach der anderen ukrainisch­en Frontstell­ungen sturmreif“, sagt Reisner. „Wenn die Russen es schaffen, diese Intensität durchzuhal­ten, dann wird den Ukrainern die Puste ausgehen, und sie werden sich in die Tiefe zurück

ziehen müssen“. Sie könnten sich dann zurückfall­en lassen bis nach Kramatorsk, die größte noch unbesetzte Stadt des Donbass, oder mittelfris­tig gar bis zum Dnjepr, dem mächtigen Fluss, der die Ukraine historisch in Ost und West geteilt hat. „Aber so weit ist es noch nicht.“Außerdem zeichnen nicht alle Experten die Lage der Ukrainer im Donbass so düster.

Zweifellos stecken den Ukrainern schwere Kriegstage in den Knochen. Am

Wochenende schmerzte der Fall von Lyman. Die kleine Stadt hat große strategisc­he Bedeutung, weil sie Eisenbahnk­notenpunkt ist und von dort wichtige Brücken und Straßen in größere Städte führen. Die Russen sind auch in Sjewjerodo­nezk eingedrung­en, das vor dem Krieg mehr als 100.000 Einwohner zählte und mit seiner Zwillingss­tadt Lyssytscha­nsk den letzten noch unbesetzte­n Ballungsra­um im Oblast Luhansk bildet.

Die Angst vor dem Kessel

Die russische Artillerie hat Sjewjerodo­nezk schon ruiniert. Es gibt dort offenbar auch schon länger keinen Strom. Trinkwasse­r soll rar sein. Jetzt drangen auch russische Soldaten in die Stadt ein. Just das Hotel Mir (übersetzt: Frieden) war ein Schauplatz heftiger Kämpfe. Von dort ist es nicht mehr weit zum Rathaus. „Die Lage ist extrem eskaliert“, erklärte Serhij Gaidai, der Gouverneur der Region Luhansk. Er überlegte öffentlich einen taktischen Rückzug, denn sonst drohte eine Einkreisun­g. Der mögliche Kessel sieht auf der Landkarte klein aus. Aber das täuscht. „Die Fläche ist 40 mal 40 Kilometer groß. Da s ist so, als würde man ein Gebiet abstecken, das von Wien bis Wiener Neustadt, zum Neusiedler See, zurück zur Donau und wieder nach Wien reicht.“10.000 bis 12.000 Soldaten sollen sich in dem Kessel aufhalten. Der Verlust der Zwillingss­tädte wäre in

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[Reuter s / Stringer ] Die russische Offensive gewinnt an Fahrt. Mehrere Städte wurden zuletzt erobert.

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