EZB-Straffung plus fiskalische Lockerung schafft brisanten Mix
Analyse. Die Europäische Zentralbank will billiges Geld vom Markt nehmen, die Regierungen pumpen neues hinein. Wie wird sich das auswirken?
Frankfurt. Europas Regierungen und Zentralbanker setzen auf einen Mix aus wirtschaftspolitischen Maßnahmen, wie es ihn seit der globalen Finanzkrise nicht mehr gegeben hat, und schaffen damit möglicherweise die Voraussetzungen für eine neue Ära der Verunsicherung an den Märkten.
Während die Europäische Zentralbank (EZB) eine Zinserhöhung bereits im Juli in Betracht zieht, um die Inflation einzudämmen, versuchen die Regierungen in Europa, die Nachfrage durch eine expansive Haushaltspolitik zu stimulieren.
Doch während die Zentralbank die Anreize jetzt zurückfahren kann, da die Regierungen mit mehr Stützungsmaßnahmen einspringen, werden die höheren Kreditkosten letztlich die öffentlichen Finanzen belasten – in Ländern wie Italien und anderswo.
„Es gibt Grenzen“
Wie lang diese Mischung aufrechterhalten werden kann, wird davon abhängen, ob Anleger bereit sind, weiterhin hoch verschuldete Regierungen zu finanzieren, ob die EZB gewillt ist, die Inflation zu bekämpfen, und ob es ihr gelingt, die Märkte unter Kontrolle zu halten.
Ökonomen wie Gilles Moec, Chefvolkswirt bei AXA Investment Managers in London, bezweifeln, dass die neue Kombination aus Finanzund Geldpolitik in der Eurozone allzu weit getrieben werden kann.
„Im Prinzip schafft dies Raum für eine schnellere Normalisierung durch die EZB, aber es gibt Grenzen“, sagt er. „Der Test besteht darin, was der Markt in Bezug auf fiskalische Anreize akzeptiert, die nicht mehr durch eine außergewöhnliche Geldpolitik unterstützt werden.“
Auch wenn die EZB sich noch nicht an der weltweiten Straffung der Geldpolitik beteiligt, die bereits von den anderen Zentralbanken – von der US-amerikanischen Fed bis zur Bank of England – durchgeführt wird, deutet auch in Frankfurt alles darauf hin, dass im Juli ein
Zinserhöhungszyklus einsetzen wird, um die Rekordinflation in der Eurozone zu bekämpfen. Dieser Monat wird von den Entscheidungsträgern immer häufiger als Zeitpunkt für ihren ersten Zinsschritt genannt, und vorige Woche kam sogar ein Signal von EZB-Präsidentin Christine Lagarde selbst.
Großer Investitionsbedarf
In der Zwischenzeit bleiben die Regierungen entschlossen in ihrem während der Pandemie eingeleiteten Ankurbelungsmodus. Die Haushaltsdefizite des Euroraums werden 2020 und 2021 zusammen rund sieben Prozent bzw. fünf Prozent betragen, und obwohl die Region ursprünglich geplant hatte, ab dem nächsten Jahr die niedrigeren
Schuldengrenzen der Europäischen Union wieder einzuhalten, ist dies nach dem Ausbruch des Krieges nun wieder vom Tisch.
Abgesehen von der Bekämpfung der Inflation sehen sich die Regierungen auch mit einem größeren Investitionsbedarf konfrontiert, um sich von der Abhängigkeit von russischer Energie zu lösen und ihre Armeen zu stärken. Einer Analyse von UBS-Ökonomen zufolge werden sich die Kosten, zusammen mit Hilfen für Flüchtlinge, bis Ende nächsten Jahres auf insgesamt zwei Prozent der Wirtschaftsleistung belaufen, wobei der größte Teil im Jahr 2022 fällig wird.
Finanzmärkte statt EZB
Bislang hat die lockere Geldpolitik solche Freigiebigkeit noch begünstigt, indem sie die Finanzierungskosten der Regierungen durch extrem niedrige Zinssätze und den Ankauf von Anleihen in Schach hielt. Doch das ändert sich gerade. Die Notfallkäufe von Anleihen wurden bereits gestoppt, und die quantitative Lockerung wird bald ganz eingestellt.
„Bis zum letzten Jahr kaufte die EZB mit dem QE-Programm im Grunde alle Netto-Neuemissionen auf, und jetzt müssen die Länder diese auf den Finanzmärkten platzieren“, sagte Silvia Ardagna, Ökonomin bei Barclays in London. „Der Appetit der Anleger, größere Emissionen zu absorbieren, ist zweifellos preissensibler.“
Für den Fall, dass die Anleiherenditen der schwächeren Volkswirtschaften des Euroraums in die Höhe schnellen, arbeiten EZB-Vertreter an einem Kriseninstrument, das nach Meinung von Bloomberg Economics möglicherweise schon bald benötigt werden könnte.
Die französische Zentralbank schätzt, dass ein Anstieg der Zinssätze um ein Prozent nach zehn Jahren zusätzliche Kosten in Höhe von fast 40 Milliarden Euro verursachen würde – fast so viel wie der gesamte Verteidigungshaushalt des Landes.
Handlungsspielraum
In Anbetracht der Marktrisken, die in der Eurozone lauern, ist es eine offene Frage, ob die EZB bei der Inflationsbekämpfung viel Handlungsspielraum haben wird.
„Der Fiskus tut im Moment vielleicht etwas mehr und die Zentralbanken etwas weniger, aber wir wissen, dass sich die derzeitigen Bedingungen sehr schnell verschlechtern können“, lautet die Einschätzung von Ludovic Subran, Chefökonom der Allianz SE. „Es ist schwierig, sich ein Szenario vorzustellen, in dem die Zentralbanken die Zinsen wirklich erhöhen können, wie sie wollen.“(Bloomberg)