Justiz muss Kritik aushalten, sie erfüllt ihre Aufgaben aber nicht auf der politischen Bühne.
Wien. Das Recht, die Justiz und die Krise, das waren die Themen der „Richter:innen-Woche“Mitte Mai. Dabei wurde auch die Rolle der Medien ins Licht gerückt. Ob nicht auch einmal über den Rechtsstaat an sich berichtet werden könnte, jenseits von Strafverfahren, von Einzelfällen und von Chats? Die gewohnte Antwort: Auch ein noch so interessantes Thema funktioniert nur mit einer „G‘schicht“. Ist der Rechtsstaat eine „G‘schicht“?
Beliebt ist er in Sonntagsreden bei schönem Wetter auf feierlichen Veranstaltungen. Gebildete Menschen zitieren Montes quieu,nummerieren die Staatsgewalten und heben deren „dritte“hervor. Es gibt unabhängige Gerichte, sie arbeiten – trotz einzelner sehr langwieriger Verfahren – vergleichsweise rasch, das Vertrauen der Menschen ist immer noch hoch, wenn man den Umfragen glaubt. Das alles ist nicht sehr spannend, also keine „G‘schicht“.
In der Geschichte des Rechtsstaats gibt es auch Anekdoten und Legenden, also „G‘schichten“. Eine der bekanntesten ist jene von der Mühle unweit des Königsschlosses Sanssouci in Potsdam, deren Klappern den preußischen König störte. Der Müller wehrte sich gegen einen Abbruchbescheid und bekam beim Berliner Kammergericht Recht. Eine nette Legende dafür, dass auch der König dem Richterspruch folgen musste – typisch für einen Rechtsstaat.
Auch in der jüngeren Vergangenheit wurde es spannend, und es gibt sehr viele Geschichten rund um die Justiz. Sie findet sich in der Tagespolitik wieder, und es wird sichtbar, wie politisch ihre Stellung innerhalb der staatlichen Ordnung ist. Nur im Rechtsstaat kann die Justiz die Macht der Mächtigen beschränken. Die Regeln gelten für alle, auch für die, die sie machen. Wenn das nicht funktioniert, ist der Rechtsstaat nur ein Wort.
Dieses Thema ist vor einiger Zeit aufgeblitzt, als diskutiert wurde, ob das Recht der Politik folgt oder die Politik dem Recht. Bei Licht und nüchtern betrachtet ist beides richtig. Die Politik macht durch die Gesetzgebung die Regeln, somit folgt das Recht der Politik. Das politische Agieren hat sich jedoch an das Recht zu halten, somit folgt die Politik dem Recht. Der Rechtsstaat funktioniert nur in der Kombination.
Keine Wohlfühlorganisation
Eine sehr gute „G’schicht“für Sonntagsreden ist auch jene vom Vertrauen der Menschen, von dem die Gerichtsbarkeit lebt. Damit ist nicht gemeint, dass immer jede und jeder über eine Entscheidung glücklich ist. Dieses Ziel wäre unerreichbar, weil es mit der Funktion dieser Staatsgewalt unvereinbar ist. Die Justiz ist keine Wohlfühlorganisation, denn es können nicht immer alle recht haben. Vertrauen ist ein hohes Gut, Vertrauen ist ein verletzliches Gut, Vertrauen geht schnell verloren und wird mühsam wiedergewonnen (lauter gute Textbausteine für Sonntagsreden).
Doch wäre der Rechtsstaat keine „ganze Geschichte“, sondern höchstens eine Überschrift, wenn es niemanden gäbe, bei dem jede und jeder das Viele und Gute, das in der Verfassung und in den Gesetzen steht, auch im ganz konkreten Fall durchsetzen könnte; das Recht bliebe geduldiges Papier.
Besonders gut funktioniert eine „G‘schicht“mit der Zutat „Konflikt“. Damit kann gedient werden. Kritik schadet dem Vertrauen nicht, Propaganda allerdings sehr wohl. Als im Jänner 2020 „rote Zellen“in der „linken Justiz“ins (Hintergrund)-Gespräch gebracht wurden, war das der Versuch, der Justiz genau jene Eigenschaften zuzuschreiben, die mit ihrer Funktion nicht vereinbar wären, und sie auf eine Bühne zu locken, auf der sie als eine Spielerin unter vielen mangels Übung schwer bestehen könnte. Aber eine Justiz, die sich ihrer wichtigen Rolle bewusst ist, muss ihr Alleinstellungsmerkmal bewahren: keine eigenen Interessen zu verfolgen. Das ist auch das Fundament der individuellen Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter. Deutlich hat die Richterschaft schon vor vierzig Jahren (1982) in den „Salzburger Beschlüssen“festgelegt, dass sie es für sittenwidrig hält, wenn für die Karriere parteipolitische Interventionen in Anspruch genommen werden. Kurz gesagt: politische
Rolle der Justiz ja, Parteipolitik nein. Diese „splendid isolation“, sich von der tagespolitischen Bühne fernzuhalten, macht es schwierig, tagespolitischen Vorwürfen entgegenzutreten.
Wie kommt die Justiz durch diese „G‘schicht“? Sie muss und wird es aushalten, sich die kalte Luft des tagespolitischen Gegenwinds um die Nase wehen zu lassen, und sie kann schwere Verkühlungen vermeiden, wenn sie nicht in jeden Ring steigt. Die Justiz erfüllt ihre Aufgaben nicht auf der politischen Bühne.
Zur Kla rstellung: Wiewohl die Wörter Krise und Kritik einen verwandten Ursprung haben, führt Kritik an der Justiz die Justiz nicht in die Krise. Fatal wäre vielmehr, wenn die Justiz keine Kritik vertrüge. Jedes Rechtsmittel gegen eine Entscheidung enthält Kritik (oft nicht zu knapp), und niemand ist beleidigt. Auch das ist Rechtsstaat. Unbestimmte, allgemein gehaltene und unbeweisbare Zuschreibungen („rot“, „schwarz“, „links“, „rechts“, etc.) sind aber keine Kritik, denn dieses Wort kommt von „unterscheiden“, „beurteilen“. Pauschale Behauptungen sind genau das Gegenteil davon.
Montesquieu kann nicht helfen
Wenn es jemandem gelingt, den Rechtsstaat verächtlich zu machen, ist er bald Geschichte. Montesquieu ist lange tot, er könnte nicht helfen. Die „Geschichte“des Rechtsstaats muss also imm erwieder erzählt werden: Wenn es niemanden gibt, der ohne eigene Interessen und ohne Rücksicht auf Machtverhältnisse und Reichtum die Regeln anwendet und verbindlich auslegt, dann verlieren alle: zuerst die Kleinen, dann die Großen und dann alle. Es wissen schon die Kinder: Wenn sich beim Spielen alle an die Regeln halten, macht es Spaß. Wenn einer schwindelt, gewinnt er; aber er darf nicht mehr mitspielen, wenn er erwischt wird. Wenn alle schwindeln, ist das Spiel vorbei und alle haben verloren.