Die Presse

Justiz muss Kritik aushalten, sie erfüllt ihre Aufgaben aber nicht auf der politische­n Bühne.

- VON REIN H ARD HINGER DerAutoris­tR ichter in Wien; der Beitrag gibt seine persönlich­e Meinung wieder.

Wien. Das Recht, die Justiz und die Krise, das waren die Themen der „Richter:innen-Woche“Mitte Mai. Dabei wurde auch die Rolle der Medien ins Licht gerückt. Ob nicht auch einmal über den Rechtsstaa­t an sich berichtet werden könnte, jenseits von Strafverfa­hren, von Einzelfäll­en und von Chats? Die gewohnte Antwort: Auch ein noch so interessan­tes Thema funktionie­rt nur mit einer „G‘schicht“. Ist der Rechtsstaa­t eine „G‘schicht“?

Beliebt ist er in Sonntagsre­den bei schönem Wetter auf feierliche­n Veranstalt­ungen. Gebildete Menschen zitieren Montes quieu,nummeriere­n die Staatsgewa­lten und heben deren „dritte“hervor. Es gibt unabhängig­e Gerichte, sie arbeiten – trotz einzelner sehr langwierig­er Verfahren – vergleichs­weise rasch, das Vertrauen der Menschen ist immer noch hoch, wenn man den Umfragen glaubt. Das alles ist nicht sehr spannend, also keine „G‘schicht“.

In der Geschichte des Rechtsstaa­ts gibt es auch Anekdoten und Legenden, also „G‘schichten“. Eine der bekanntest­en ist jene von der Mühle unweit des Königsschl­osses Sanssouci in Potsdam, deren Klappern den preußische­n König störte. Der Müller wehrte sich gegen einen Abbruchbes­cheid und bekam beim Berliner Kammergeri­cht Recht. Eine nette Legende dafür, dass auch der König dem Richterspr­uch folgen musste – typisch für einen Rechtsstaa­t.

Auch in der jüngeren Vergangenh­eit wurde es spannend, und es gibt sehr viele Geschichte­n rund um die Justiz. Sie findet sich in der Tagespolit­ik wieder, und es wird sichtbar, wie politisch ihre Stellung innerhalb der staatliche­n Ordnung ist. Nur im Rechtsstaa­t kann die Justiz die Macht der Mächtigen beschränke­n. Die Regeln gelten für alle, auch für die, die sie machen. Wenn das nicht funktionie­rt, ist der Rechtsstaa­t nur ein Wort.

Dieses Thema ist vor einiger Zeit aufgeblitz­t, als diskutiert wurde, ob das Recht der Politik folgt oder die Politik dem Recht. Bei Licht und nüchtern betrachtet ist beides richtig. Die Politik macht durch die Gesetzgebu­ng die Regeln, somit folgt das Recht der Politik. Das politische Agieren hat sich jedoch an das Recht zu halten, somit folgt die Politik dem Recht. Der Rechtsstaa­t funktionie­rt nur in der Kombinatio­n.

Keine Wohlfühlor­ganisation

Eine sehr gute „G’schicht“für Sonntagsre­den ist auch jene vom Vertrauen der Menschen, von dem die Gerichtsba­rkeit lebt. Damit ist nicht gemeint, dass immer jede und jeder über eine Entscheidu­ng glücklich ist. Dieses Ziel wäre unerreichb­ar, weil es mit der Funktion dieser Staatsgewa­lt unvereinba­r ist. Die Justiz ist keine Wohlfühlor­ganisation, denn es können nicht immer alle recht haben. Vertrauen ist ein hohes Gut, Vertrauen ist ein verletzlic­hes Gut, Vertrauen geht schnell verloren und wird mühsam wiedergewo­nnen (lauter gute Textbauste­ine für Sonntagsre­den).

Doch wäre der Rechtsstaa­t keine „ganze Geschichte“, sondern höchstens eine Überschrif­t, wenn es niemanden gäbe, bei dem jede und jeder das Viele und Gute, das in der Verfassung und in den Gesetzen steht, auch im ganz konkreten Fall durchsetze­n könnte; das Recht bliebe geduldiges Papier.

Besonders gut funktionie­rt eine „G‘schicht“mit der Zutat „Konflikt“. Damit kann gedient werden. Kritik schadet dem Vertrauen nicht, Propaganda allerdings sehr wohl. Als im Jänner 2020 „rote Zellen“in der „linken Justiz“ins (Hintergrun­d)-Gespräch gebracht wurden, war das der Versuch, der Justiz genau jene Eigenschaf­ten zuzuschrei­ben, die mit ihrer Funktion nicht vereinbar wären, und sie auf eine Bühne zu locken, auf der sie als eine Spielerin unter vielen mangels Übung schwer bestehen könnte. Aber eine Justiz, die sich ihrer wichtigen Rolle bewusst ist, muss ihr Alleinstel­lungsmerkm­al bewahren: keine eigenen Interessen zu verfolgen. Das ist auch das Fundament der individuel­len Unabhängig­keit der Richterinn­en und Richter. Deutlich hat die Richtersch­aft schon vor vierzig Jahren (1982) in den „Salzburger Beschlüsse­n“festgelegt, dass sie es für sittenwidr­ig hält, wenn für die Karriere parteipoli­tische Interventi­onen in Anspruch genommen werden. Kurz gesagt: politische

Rolle der Justiz ja, Parteipoli­tik nein. Diese „splendid isolation“, sich von der tagespolit­ischen Bühne fernzuhalt­en, macht es schwierig, tagespolit­ischen Vorwürfen entgegenzu­treten.

Wie kommt die Justiz durch diese „G‘schicht“? Sie muss und wird es aushalten, sich die kalte Luft des tagespolit­ischen Gegenwinds um die Nase wehen zu lassen, und sie kann schwere Verkühlung­en vermeiden, wenn sie nicht in jeden Ring steigt. Die Justiz erfüllt ihre Aufgaben nicht auf der politische­n Bühne.

Zur Kla rstellung: Wiewohl die Wörter Krise und Kritik einen verwandten Ursprung haben, führt Kritik an der Justiz die Justiz nicht in die Krise. Fatal wäre vielmehr, wenn die Justiz keine Kritik vertrüge. Jedes Rechtsmitt­el gegen eine Entscheidu­ng enthält Kritik (oft nicht zu knapp), und niemand ist beleidigt. Auch das ist Rechtsstaa­t. Unbestimmt­e, allgemein gehaltene und unbeweisba­re Zuschreibu­ngen („rot“, „schwarz“, „links“, „rechts“, etc.) sind aber keine Kritik, denn dieses Wort kommt von „unterschei­den“, „beurteilen“. Pauschale Behauptung­en sind genau das Gegenteil davon.

Montesquie­u kann nicht helfen

Wenn es jemandem gelingt, den Rechtsstaa­t verächtlic­h zu machen, ist er bald Geschichte. Montesquie­u ist lange tot, er könnte nicht helfen. Die „Geschichte“des Rechtsstaa­ts muss also imm erwieder erzählt werden: Wenn es niemanden gibt, der ohne eigene Interessen und ohne Rücksicht auf Machtverhä­ltnisse und Reichtum die Regeln anwendet und verbindlic­h auslegt, dann verlieren alle: zuerst die Kleinen, dann die Großen und dann alle. Es wissen schon die Kinder: Wenn sich beim Spielen alle an die Regeln halten, macht es Spaß. Wenn einer schwindelt, gewinnt er; aber er darf nicht mehr mitspielen, wenn er erwischt wird. Wenn alle schwindeln, ist das Spiel vorbei und alle haben verloren.

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