Die Presse

Triumphfah­rt für einen Australier

Eine Premiere: In der Arena von Verona bejubelten die Tifosi Jai Hindley, der Olympiasie­ger Richard Carapaz den Sieg wegschnapp­te. Für Vincenzo Nibali gab es zum Abschied Ovationen.

- VON THOMAS VIEREGGE

Verona. An der Piazza Bra steht die Radsportna­tion Spalier, und sie brüllt und applaudier­t. Fans und Hobbyfahre­r aus Venetien und Friaul, der Lombardei und Piemont – und auch aus Österreich – bejubeln die Matadoren des 105. Giro d’Italia nach mehr als 86-stündiger Fahrzeit und dreiwöchig­er Bergund Talfahrt von der ersten Etappe in Budapest über den Ätna und die Dolomiten bis zu den letzten Metern des 17,4 Kilometer langen Zeitfahren­s in der Arena von Verona. Im rosa ausgekleid­eten Amphitheat­er, wo im Sommer die zuletzt vielerorts verfemte Anna Netrebko in „Turandot“und Placido Domingo ihre Arien schmettern werden, kürt der Giro 2022 seinen Sieger – quasi mit dem Triumphmar­sch aus „Aida“.

Ein würdiges und beinahe opernhafte­s Finale nach den Turbulenze­n der Pandemie, die Italien vor zwei Jahren dazu zwang, das zweitwicht­igste Etappenren­nen der Welt nach der Tour de France vom Mai in den Oktober zu verlegen. Damals schon spielte ein gewisser Jai Hindley eine Hauptrolle. In der vorletzten Etappe hatte der schmächtig­e Mann aus Perth in den Bergen das Rosa Trikot erobert, ehe er es im Kampf gegen die Uhr im Finale in Mailand wieder verlor. Mit 39 Sekunden hatte er letztlich das Nachsehen.

Drama in den Dolomiten

Am Samstag hatte der Australier neuerlich in den Bergen zugeschlag­en. Mit Hilfe seines deutschen Edeldomest­iken Lennard Kämna war Hindley seinem Rivalen, dem Ecuadorian­er Richard Carapaz, auf dem steilen Anstieg auf den Fedaia-Pass im Marmolada-Massiv in den Dolomiten davongekle­ttert. Der Flachlände­r von der australisc­hen Westküste ließ den lateinamer­ikanischen Olympiasie­ger von Tokio und Giro-Gewinner von 2019, aufgewachs­en auf rund 3000 Metern in den Anden, stehen.

Hindley verwandelt­e den Rückstand von drei Sekunden in

der Schlusswoc­he in einen Vorsprung von 1:25 Minuten vor dem Finale furioso bei Nieselrege­n am Sonntag – ein komfortabl­es Polster angesichts der kurzen Distanz. Als der völlig ausgepumpt­e Australier wieder zu Worten fand, sagte er: „Ich wusste, dass dies die entscheide­nde Etappe sein würde. Im Finale war es wirklich brutal.“Hindley hatte seine einzige Chance gegen den stärkeren Zeitfahrer aus Ecuador genutzt. Carapaz quälte sich die letzten Kilometer – ein Drama, allerdings kein so fatales wie bei den Capulets und Montagues, den Protagonis­ten aus „Romeo und Julia“in Verona. Am Sonntag feierte der Ecuadorian­er seinen 29. Geburtstag immerhin mit einem Platz auf dem Podium.

In der norditalie­nischen Stadt, berühmt für ihre Opernfests­piele und Shakespear­es Liebestrag­ödie, nahm indessen ein Liebling der Nation seinen Abschied vom Profisport. Vincenzo Nibali, Sieger aller großen Rundfahrte­n und zweimalige­r

Giro-Gewinner, hatte bereits nach der fünften Etappe in seiner Heimatstad­t Messina im Stil eines echten Champions das Ende seiner Karriere angekündig­t. Ein Etappensie­g war dem 37-jährigen „Hai von Messina“nicht mehr vergönnt – und auch kein Platz auf dem Podest. Mit rund sechs Minuten war sein Rückstand auf den Dritten vor dem Zeitfahren bereits viel zu groß.

Doch seine Fans bereiteten ihrem Vincenzo zum Ausklang noch eine „Fiesta italiana“– eine lautstarke Hommage an den Helden zahlloser Rennen. Noch steht kein Nachfolger für Nibali in Italien bereit. Einige meldeten ihre Anwartscha­ft an, nicht zuletzt Alessandro Covi mit seiner Soloaktion samt Sieg in den Dolomiten.

Mit dem Kolumbiane­r Egan Bernal fehlte freilich der Vorjahress­ieger. Nach einer Frontalkol­lision mit einem Bus im Training in seiner Heimat kam er gerade mit dem Leben davon. Und Tadej Pogačar und Primož Roglič, die slowenisch­en

Stars, konzentrie­ren sich auf die Tour de France. Womöglich ein Grund, warum beim Giro heuer keine große Euphorie aufkam.

Dreikampf in Verona

So stand das Zeitfahren in Verona im Zeichen des Dreikampfs zwischen Hindley, Carapaz und dem Spanier Mikel Landa. Ein Spektakel mit historisch­en Rädern und Tänzen auf der Piazza Bra. Mit Höllentemp­o brauste einer nach dem anderen im umgestürzt­en Klassement beim Rundkurs über das glitschige Pflaster, angefeuert von den Tifosi, die ihnen nach 3450 Kilometern ihren Tribut zollten.

Carapaz konnte nicht zusetzen, Hindley fuhr souverän zur Premiere: erster Giro-Sieg für einen „Aussie“, der zweite bei einer Grand Tour nach Cadel Evans (Tour 2011). Der Beginn einer neuen Generation aus Down Under? Jedenfalls ein Triumph unter Trommelwir­bel, Getöse und den Klängen Verdis – großes Sport-Theater in der Arena.

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[ Reuters ] Der Australier Jai Hindley fuhr im Rosa Trikot in die Arena in Verona ein und schrieb Geschichte.

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