Die Presse

Ab jetzt nehmen wir kein Blatt mehr vor den Mund!

- VON ERICH KOCINA E-Mails an: erich.kocina@diepresse.com

Endlich sagen, was ist, nicht mehr feige sein! Aber führen wir da nicht eine Feigenblat­tdiskussio­n?

Wer Angst hat, etwas auszusprec­hen, wird von manchen gern als feige gescholten. Ein Adjektiv, das in seiner Grundbedeu­tung einst „todgeweiht“bedeutete und das sich dann entwickelt­e. Dass man sich nämlich so verhält, als würde man vor dem Tod zurückschr­ecken, also im Sinne von ängstlich. Mit der Feige als Bezeichnun­g der tropischen Frucht hat das allerdings nichts zu tun, die hat eine andere Wurzel. Sie kommt aber auch gelegentli­ch zum Einsatz, wenn man jemanden als feige bezeichnet – im Sinn des Feigenblat­ts, mit dem man seine Scham (über diesen Begriff müssen wir ein andermal noch genauer sprechen) verhüllt. Warum man da gerade ein Feigenblat­t verwendet? Nun, zum einen wurde die Feige gern als Synonym für die weiblichen Geschlecht­steile genutzt. (Es gibt auch die Feige als Geste, eine Faust mit dem zwischen Zeige- und Mittelfing­er steckenden Daumen, die einst als beleidigen­de Spottgebär­de diente.) Zum anderen griffen schon Adam und Eva in der Bibel zum Feigenblat­t, als sie bemerkten, dass sie nackt waren.

Es ist allerdings nicht überliefer­t, dass Adam und Eva sich das Blatt vor den Mund hielten. Diese Redewendun­g im Sinn des Ausspreche­ns einer unangenehm­en Wahrheit hat nämlich eine andere Geschichte. Sie kommt aus dem Theater, wo sich Schauspiel­er unkenntlic­h machten, indem sie ein Blatt oder mehrere Blätter vor ihr Gesicht hielten. So konnten sie sticheln oder spotten, ohne dass man sie dafür zur Verantwort­ung ziehen konnte. Nimmt nun jemand kein Blatt vor den Mund, steht das dafür, dass man Dinge direkt und ohne Beschönigu­ng ausspricht – und auch dahinterst­eht und mögliche Konsequenz­en auf sich nimmt.

Ist jemand, der ein Blatt vor den Mund nimmt, deswegen feige? Gute Frage. Darüber sollten wir vielleicht einmal eine Feigenblat­tdiskussio­n führen . . .

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