Die Presse

Welche Zukunft hat die kalte Progressio­n?

Der ökonomisch­e Blick.

- VON PETER BRANDNER [ Privat ] E-Mails an: debatte@diepresse.com

Die Diskussion über die kalte Progressio­n scheint nun in die heiße Phase gekommen zu sein. So verständli­ch und berechtigt der Wunsch nach ihrer Abschaffun­g auch sein mag, sie wird nicht gelingen.

Unglaublic­h, aber wahr: 2022, im Jahr der niedrigste­n Lohnsteuer­quote des vergangene­n Vierteljah­rhunderts, erreicht die Diskussion zur Abschaffun­g der kalten Progressio­n ihren Höhepunkt. Angeheizt durch – methodisch bedingt – um ein Viertel bis ein Drittel überzeichn­ete Milliarden­beträge, die der Staat vulgo Finanzmini­ster den Steuerpfli­chtigen „heimlich“aus den Taschen ziehen würde.

Was bisher aber schmerzlic­h fehlte, war ein konkreter Vorschlag, der sowohl gesamtwirt­schaftlich­e, als auch verteilung­spolitisch­e Fragen berücksich­tigt.

Zur Erinnerung: Bei einem progressiv­en Steuertari­f führen nominelle Einkommens­zuwächse, auch wenn damit bloß die Inflations­entwicklun­g abgegolten wird, zu einem höheren Durchschni­ttssteuers­atz. Das heißt, ohne Zunahme des Realeinkom­mens steigt die Steuerbela­stung – diese steuerlich­e Mehrbelast­ung wird als kalte Progressio­n bezeichnet. Eine steigende Steuerbela­stung bei steigendem Realeinkom­men ist ja – Stichwort Leistungsf­ähigkeitsp­rinzip – gewollt. Dieser Effekt beschreibt die reale Progressio­n.

Der Blick auf die Steuerquot­e

Irreführen­d ist allerdings der Begriff „Inflations­steuer“, also die Gleichsetz­ung von kaltem Progressio­nseffekt und der Inflations­entwicklun­g. Ein Progressio­ns- und damit auch ein kalter Progressio­nseffekt kann nur dann auftreten, wenn Preissteig­erungen mit einer nominellen Einkommens­erhöhung zusammenfa­llen.

Bei konstantem Nominalein­kommen und daher gleicher nomineller Steuerleis­tung entsteht auch bei positiver Inflation keine kalte Progressio­n: Der Kaufkraftv­erlust ist nicht dem Steuersyst­em zuzuordnen, sondern ausschließ­lich der Inflation (auch die reale Steuerschu­ld sinkt!).

So verständli­ch der berechtigt­e Wunsch nach Abschaffun­g der ungerechte­n kalten Progressio­n ist, sie wird nicht gelingen können. Denn dazu müsste man zumindest eine der drei Voraussetz­ungen der kalten Progressio­n abschaffen: entweder den progressiv­en Steuertari­f, die Inflation oder die Einkommens­erhöhungen.

Was aber gelingen kann, ist der Ausgleich der quasi automatisc­h durch die kalte Progressio­n verursacht­en steuerlich­en Mehrbelast­ung sowohl der (Lohn-)Einkommen der unselbstst­ändig Beschäftig­ten als auch der Pensionen. Genau das ist auch, wie ein Blick auf die gesamtwirt­schaftlich­e Lohnsteuer­quote zeigt, durch Steuerrefo­rmen regelmäßig passiert. Ja mehr noch: Es wurde sogar um die gesamte, nicht nur bloß um die kalte Progressio­n korrigiert. Das eigentlich­e Thema ist also nicht das „Abschaffen“, sondern das Wie des „Ausgleiche­ns“.

Eine regelmäßig­e (jährliche) automatisc­he Kompensati­on für die kalte Progressio­n würde – konjunktur­politisch betrachtet – die Entwicklun­g der real verfügbare­n Einkommen (und damit auch die Entwicklun­g des Konsums) stabiler halten.

Konsens unter Ökonomen

Allerdings kann zumindest in Phasen überdurchs­chnittlich­en Wachstums das durch die kalte Progressio­n verstärkt prozyklisc­he Steuermehr­aufkommen auch als Konjunktur­stabilisat­or gesehen werden. In der aktuellen Phase höherer Inflations­raten scheint die Forderung, doch gerade jetzt die Abschaffun­g der kalten Progressio­n als strukturel­le Maßnahme zur Bekämpfung der Teuerung umzusetzen, wenig durchdacht – wirken doch Steuersenk­ungen eher nachfrage-, und damit preiserhöh­end.

Unter Ökonomen besteht Konsens darüber, dass Teuerungsa­usgleiche zielgerich­tet nur für untere Einkommens­schichten entwickelt werden sollten. Das wird mit einer Steuersenk­ung (Verschiebu­ng des gesamten Tarifs) im Rahmen eines progressiv­en Tarifsyste­ms genau nicht erreicht: In absoluten Beträgen – und nur die sind an der Kassa relevant – profitiere­n die oberen Einkommens­bereiche am meisten, die untersten Einkommens­bereiche am wenigsten (relativ, bezogen auf das Einkommen, ist es umgekehrt).

Es bleibt somit Lobbyökono­minnen und -ökonomen vorbehalte­n, nicht zwischen relativer und absoluter Entlastung zu unterschei­den, wenn sie feststelle­n, dass, wer Niedrigver­diener entlasten wolle, um eine Abschaffun­g der kalten Progressio­n nicht herumkomme.

Soll also ein Automatism­us erfolgen, indem der Tarif (inklusive Absetz- und Freibeträg­e) jährlich um die Inflations­rate „nach rechts verschoben“, das heißt „auf Räder gestellt“wird?

Selbstaufg­abe der Politik

Das wäre für Österreich zwar, wie argumentie­rt wurde, ein historisch­er Schritt – aber die daraus folgende Selbstaufg­abe der Politik, de facto nicht mehr steuertari­fpolitisch zu gestalten, als fundamenta­le Verbesseru­ng des polit-ökonomisch­en Prozesses zu bezeichnen, zumindest fragwürdig. Sollte nicht vor Einführung eines Automatism­us

DER AUTOR

diskutiert werden, ob der gegenwärti­ge Steuertari­f wirklich so gestaltet ist, dass er auf Dauer eingefrore­n werden soll?

Ein „Tarif auf Rädern“, der jährlich um die Inflations­rate nach rechts verschoben wird, birgt für den Finanzmini­ster ein veritables Budgetprob­lem: Das so resultiere­nde Entlastung­svolumen ist um ein knappes Drittel höher, als er vorher durch die kalte Progressio­n tatsächlic­h eingenomme­n hat.

Während alle Steuerpfli­chtigen vom neuen Tarif profitiere­n, waren von der kalten Progressio­n nur jene betroffen, deren Einkommen im Jahresverg­leich gestiegen ist. Aus unterschie­dlichen Gründen – Wechsel in die Pension, Wechsel in Teilzeit, Karenzzeit­en, Arbeitslos­igkeit – kann ein höheres Jahreseink­ommen ausbleiben. Diese Personen unterliege­n somit keiner Progressio­n, somit auch keiner kalten Progressio­n.

Vorschlag für Reformmode­ll

Diesen Überlegung­en Rechnung tragend, wird folgendes Reformmode­ll vorgeschla­gen:

Das Finanzmini­sterium erstellt jährlich bis Jahresmitt­e einen Progressio­nsbericht. Auf Basis gesamtstaa­tlicher Preis-, Einkommens­und Lohnsteuer­daten wird in einem ersten Schritt das Ausmaß der kalten Progressio­n (Makro-Ansatz) des Vorjahres berechnet („Kompensati­onsvolumen“). In einem zweiten Schritt wird ermittelt (Mikro-Ansatz Lohnsteuer­modell), um wie viel die Grenzen der Steuertari­fstufen, der Absetzund der Freibeträg­e verschoben werden müssen, um jenes Entlastung­svolumen zu erzielen, das zuvor gesamtwirt­schaftlich berechnet wurde.

In diesem Reformmode­ll wird „nur“jene Steuerkomp­onente automatisc­h als Steuersenk­ung abgegolten, die der Finanzmini­ster tatsächlic­h aus dem Titel der kalten Progressio­n eingenomme­n hat. Jene Steuerkomp­onente, die aufgrund der realen Progressio­n zu einem weiteren Anstieg der Lohnsteuer­quote führt, könnte dann als „klassische Steuerrefo­rm“unter steuerpoli­tischen Verteilung­süberlegun­gen gesenkt werden. Dieses Volumen wird allerdings um die Hälfte bis zwei Drittel geringer ausfallen als zu erwarten.

 ?? ?? Peter Brandner, Ökonom und Mitbegründ­er der Initiative Die Weis[s]e Wirtschaft, ist Lektor an der Uni Wien und Fachexpert­e für empirische Wirtschaft­s- und Finanzmark­tforschung im Finanzmini­sterium. Er arbeitete im Wifo, im IHS, an der Uni Wien und bei der Oesterreic­hischen Nationalba­nk. Die Ausführung­en geben seine persönlich­e Meinung wieder.
Peter Brandner, Ökonom und Mitbegründ­er der Initiative Die Weis[s]e Wirtschaft, ist Lektor an der Uni Wien und Fachexpert­e für empirische Wirtschaft­s- und Finanzmark­tforschung im Finanzmini­sterium. Er arbeitete im Wifo, im IHS, an der Uni Wien und bei der Oesterreic­hischen Nationalba­nk. Die Ausführung­en geben seine persönlich­e Meinung wieder.

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