Welche Zukunft hat die kalte Progression?
Der ökonomische Blick.
Die Diskussion über die kalte Progression scheint nun in die heiße Phase gekommen zu sein. So verständlich und berechtigt der Wunsch nach ihrer Abschaffung auch sein mag, sie wird nicht gelingen.
Unglaublich, aber wahr: 2022, im Jahr der niedrigsten Lohnsteuerquote des vergangenen Vierteljahrhunderts, erreicht die Diskussion zur Abschaffung der kalten Progression ihren Höhepunkt. Angeheizt durch – methodisch bedingt – um ein Viertel bis ein Drittel überzeichnete Milliardenbeträge, die der Staat vulgo Finanzminister den Steuerpflichtigen „heimlich“aus den Taschen ziehen würde.
Was bisher aber schmerzlich fehlte, war ein konkreter Vorschlag, der sowohl gesamtwirtschaftliche, als auch verteilungspolitische Fragen berücksichtigt.
Zur Erinnerung: Bei einem progressiven Steuertarif führen nominelle Einkommenszuwächse, auch wenn damit bloß die Inflationsentwicklung abgegolten wird, zu einem höheren Durchschnittssteuersatz. Das heißt, ohne Zunahme des Realeinkommens steigt die Steuerbelastung – diese steuerliche Mehrbelastung wird als kalte Progression bezeichnet. Eine steigende Steuerbelastung bei steigendem Realeinkommen ist ja – Stichwort Leistungsfähigkeitsprinzip – gewollt. Dieser Effekt beschreibt die reale Progression.
Der Blick auf die Steuerquote
Irreführend ist allerdings der Begriff „Inflationssteuer“, also die Gleichsetzung von kaltem Progressionseffekt und der Inflationsentwicklung. Ein Progressions- und damit auch ein kalter Progressionseffekt kann nur dann auftreten, wenn Preissteigerungen mit einer nominellen Einkommenserhöhung zusammenfallen.
Bei konstantem Nominaleinkommen und daher gleicher nomineller Steuerleistung entsteht auch bei positiver Inflation keine kalte Progression: Der Kaufkraftverlust ist nicht dem Steuersystem zuzuordnen, sondern ausschließlich der Inflation (auch die reale Steuerschuld sinkt!).
So verständlich der berechtigte Wunsch nach Abschaffung der ungerechten kalten Progression ist, sie wird nicht gelingen können. Denn dazu müsste man zumindest eine der drei Voraussetzungen der kalten Progression abschaffen: entweder den progressiven Steuertarif, die Inflation oder die Einkommenserhöhungen.
Was aber gelingen kann, ist der Ausgleich der quasi automatisch durch die kalte Progression verursachten steuerlichen Mehrbelastung sowohl der (Lohn-)Einkommen der unselbstständig Beschäftigten als auch der Pensionen. Genau das ist auch, wie ein Blick auf die gesamtwirtschaftliche Lohnsteuerquote zeigt, durch Steuerreformen regelmäßig passiert. Ja mehr noch: Es wurde sogar um die gesamte, nicht nur bloß um die kalte Progression korrigiert. Das eigentliche Thema ist also nicht das „Abschaffen“, sondern das Wie des „Ausgleichens“.
Eine regelmäßige (jährliche) automatische Kompensation für die kalte Progression würde – konjunkturpolitisch betrachtet – die Entwicklung der real verfügbaren Einkommen (und damit auch die Entwicklung des Konsums) stabiler halten.
Konsens unter Ökonomen
Allerdings kann zumindest in Phasen überdurchschnittlichen Wachstums das durch die kalte Progression verstärkt prozyklische Steuermehraufkommen auch als Konjunkturstabilisator gesehen werden. In der aktuellen Phase höherer Inflationsraten scheint die Forderung, doch gerade jetzt die Abschaffung der kalten Progression als strukturelle Maßnahme zur Bekämpfung der Teuerung umzusetzen, wenig durchdacht – wirken doch Steuersenkungen eher nachfrage-, und damit preiserhöhend.
Unter Ökonomen besteht Konsens darüber, dass Teuerungsausgleiche zielgerichtet nur für untere Einkommensschichten entwickelt werden sollten. Das wird mit einer Steuersenkung (Verschiebung des gesamten Tarifs) im Rahmen eines progressiven Tarifsystems genau nicht erreicht: In absoluten Beträgen – und nur die sind an der Kassa relevant – profitieren die oberen Einkommensbereiche am meisten, die untersten Einkommensbereiche am wenigsten (relativ, bezogen auf das Einkommen, ist es umgekehrt).
Es bleibt somit Lobbyökonominnen und -ökonomen vorbehalten, nicht zwischen relativer und absoluter Entlastung zu unterscheiden, wenn sie feststellen, dass, wer Niedrigverdiener entlasten wolle, um eine Abschaffung der kalten Progression nicht herumkomme.
Soll also ein Automatismus erfolgen, indem der Tarif (inklusive Absetz- und Freibeträge) jährlich um die Inflationsrate „nach rechts verschoben“, das heißt „auf Räder gestellt“wird?
Selbstaufgabe der Politik
Das wäre für Österreich zwar, wie argumentiert wurde, ein historischer Schritt – aber die daraus folgende Selbstaufgabe der Politik, de facto nicht mehr steuertarifpolitisch zu gestalten, als fundamentale Verbesserung des polit-ökonomischen Prozesses zu bezeichnen, zumindest fragwürdig. Sollte nicht vor Einführung eines Automatismus
DER AUTOR
diskutiert werden, ob der gegenwärtige Steuertarif wirklich so gestaltet ist, dass er auf Dauer eingefroren werden soll?
Ein „Tarif auf Rädern“, der jährlich um die Inflationsrate nach rechts verschoben wird, birgt für den Finanzminister ein veritables Budgetproblem: Das so resultierende Entlastungsvolumen ist um ein knappes Drittel höher, als er vorher durch die kalte Progression tatsächlich eingenommen hat.
Während alle Steuerpflichtigen vom neuen Tarif profitieren, waren von der kalten Progression nur jene betroffen, deren Einkommen im Jahresvergleich gestiegen ist. Aus unterschiedlichen Gründen – Wechsel in die Pension, Wechsel in Teilzeit, Karenzzeiten, Arbeitslosigkeit – kann ein höheres Jahreseinkommen ausbleiben. Diese Personen unterliegen somit keiner Progression, somit auch keiner kalten Progression.
Vorschlag für Reformmodell
Diesen Überlegungen Rechnung tragend, wird folgendes Reformmodell vorgeschlagen:
Das Finanzministerium erstellt jährlich bis Jahresmitte einen Progressionsbericht. Auf Basis gesamtstaatlicher Preis-, Einkommensund Lohnsteuerdaten wird in einem ersten Schritt das Ausmaß der kalten Progression (Makro-Ansatz) des Vorjahres berechnet („Kompensationsvolumen“). In einem zweiten Schritt wird ermittelt (Mikro-Ansatz Lohnsteuermodell), um wie viel die Grenzen der Steuertarifstufen, der Absetzund der Freibeträge verschoben werden müssen, um jenes Entlastungsvolumen zu erzielen, das zuvor gesamtwirtschaftlich berechnet wurde.
In diesem Reformmodell wird „nur“jene Steuerkomponente automatisch als Steuersenkung abgegolten, die der Finanzminister tatsächlich aus dem Titel der kalten Progression eingenommen hat. Jene Steuerkomponente, die aufgrund der realen Progression zu einem weiteren Anstieg der Lohnsteuerquote führt, könnte dann als „klassische Steuerreform“unter steuerpolitischen Verteilungsüberlegungen gesenkt werden. Dieses Volumen wird allerdings um die Hälfte bis zwei Drittel geringer ausfallen als zu erwarten.