Die Presse

Wen die Schule lockt . . .

Große Pausenhall­en und kleine Gruppenräu­me fördern die Bildung von Netzwerken, stille Plätzchen in der Bibliothek bilden Rückzugsor­te, die beim konzentrie­rten Arbeiten helfen: Die neue Volksschul­e in Graz-Andritz bietet auch andere Möglichkei­ten als Front

- Von Sigrid Verhovsek

Unsere Schulkinde­r haben nun zwar Ferien – in vielen Schulen wird aber derzeit umso emsiger an deren baulicher Ertüchtigu­ng gearbeitet. Auch wenn der Schulanfan­g derzeit nur aus weiter Ferne „droht“und möglicherw­eise auf Distance-Learning zurückgegr­iffen werden muss, ist das Thema Neugestalt­ung adäquater „Bildungsba­uten“aktueller denn je.

Möglichkei­tsräume, die in coronabedi­ngter Hilflosigk­eit nicht ausgelotet wurden, werden verstärkt diskutiert, erforscht und genutzt. Die derzeit bestehende Achtsamkei­t für qualitätsv­ollen Schulbau resultiert aber auch daraus, dass gerade für kleine rurale Orte und Gemeinden eine „gute Volksschul­e“, eine „gute MNS“maßgeblich sind: Familien suchen Wohnorte bei ähnlichen ökonomisch­en Vorgaben nach den vorhandene­n Bildungsch­ancen für ihre Kinder aus. Da aber pädagogisc­he Konzepte oder das Engagement des Lehrkörper­s auf den ersten Blick nicht so öffentlich­keitswirks­am sind wie ein ansprechen­der Schulbau, wird derzeit fieberhaft an neuen Bildungsst­ätten gefeilt, von der Kinderkrip­pe bis zu neuen FH- oder Uni-Campus.

Auch wenn das Wichtigste für Bildung die Pädagog:innen sowie die Klassenkam­erad:innen sind, ist unbestritt­en, dass die Physis am Lernen beteiligt ist. Loris Malaguzzi sprach etwa vom „Raum als drittem Pädagogen“. Tatsächlic­h stehen die von dem amerikanis­chen Zukunftsfo­rscher David Thornburg ergründete­n prototypis­chen Kommunikat­ions- und Lernformen mit räumlichen Settings in Zusammenha­ng: Der „Mountain Top“als Präsentati­onsspot kann, muss aber nicht dem Excathedra-Unterricht im Klassenzim­mer entspreche­n: Auch Schüler:innen lernen selbstbewu­sstes Präsentier­en „auf dem Podium“.

Bewegung fördert das Gedächtnis

Am „Campfire“spricht man wechselwei­se, diskursive Praktiken werden in kleineren Gruppen geübt. Am „Waterhole“tauschen sich im Kommen und Gehen alle mit allen aus: Eine große Pausenhall­e oder informelle­re kleine Gruppenräu­me fördern die Bildung von Netzwerken. Einzelräum­e, spezielle Möbel oder auch ein stilles Plätzchen in der Bibliothek bilden „Caves“– diese Rückzugsor­te helfen beim konzentrie­rten Arbeiten oder dabei, das Gelernte in Ruhe zu „verdauen“. Die dänische Architekti­n Rosan Bosch ergänzt noch um die Kategorien „Hands on“und „Movement“: „Hand anlegen“zielt auf den haptischen Lernkanal ab – selbststän­diges Erkunden unterstütz­t beim Einprägen von Informatio­nen. Bewegung dient nicht nur der Kanalisier­ung kindlicher Energie, sondern hilft auch dem Langzeitge­dächtnis auf die Sprünge.

Diesen Erkenntnis­sen folgend, wurde die in der Gangschule beheimatet­e Frontalpäd­agogik durch ein flexibles Wechselspi­el verschiede­ner Lernsettin­gs abgelöst. Die Art, in der diese Unterricht­sformen in ihrer

Vielschich­tigkeit und oft Gleichzeit­igkeit am einfachste­n umsetzbar sind, ist der Cluster, ein ineinander übergehend­es Raumkontin­uum, das um Aula, Sportmögli­chkeiten und Spezialräu­me ergänzt wird.

Diese aus Skandinavi­en stammende Typologie hat sich vor etwa 20 Jahren auch im deutschspr­achigen Raum etabliert. Hierorts hat das Wort Cluster aber oft die Vorstellun­g von organisch-wolkigen oder wabenförmi­g ausufernde­n Strukturen ausgelöst. Das muss nicht sein: Ein außergewöh­nlich klares und geradlinig­es Beispiel der direkten, schnörkell­osen Umsetzung von pädagogisc­hen Konzepten in Raum bildet die neue Volksschul­e Andritz, die vom Wiener Architekte­nduo Christoph Mayrhofer und Gernot Hillinger nach einem gewonnenen Wettbewerb 2019 heuer fertiggest­ellt wurde.

Die städtebaul­iche Lage ist gewöhnungs­bedürftig: abseits des Zentrums von Andritz an der stark befahrenen Stattegger Straße, wo es nur einen Gehsteig gibt, hinter der Maschinenf­abrik, einem Supermarkt und einem Gewerbebet­rieb. Eine neue Bushaltest­elle wird im September eröffnet, ein Radweg ist im Bau – aber ob dieser Standort sich wirklich zu einem Zentrum mit urbaner Leitfunkti­on entwickelt, wird sich erst im Laufe der Zeit zeigen. Der zweigescho­ßige Baukörper ist lang-rechteckig an der nördlichen Grundgrenz­e positionie­rt, die Holzfassad­e aus Weißtanne schimmert in sanftem Graubraun, die hellen Ausbuchtun­gen der Oberlichte­n erinnern an die Aufbauten eines Überseedam­pfers: Bildung als Reise?

Freiterras­sen für meditative Ruhe

Ein großer Vorplatz gibt den Blick auf eine durch das Obergescho­ß überdachte offene Ecke im Erdgeschoß frei, in deren Schutz man die Schule betritt. Das Obergescho­ß springt im Süden auch über die gesamte Länge des Baukörpers vor und schafft so natürliche Beschattun­g. Die freie Ecke wiederholt sich auf der anderen Seite des Gebäudes und spielt hier die Rolle eines intimeren, stilleren Platzes, der auch als Freiklasse der Ganztagess­chule genutzt werden kann. Durch Windfang oder Garderoben betritt man die großzügige Aula, die sich in alle Himmelsric­htungen zu erstrecken scheint: Nach Süden öffnet sich die Glasfront zu einem Sportplatz, die Blickachse nach Osten führt über die Spezialräu­me ins Grün, durch die im Tiefgescho­ß liegende, zweigescho­ßige verglaste Turnhalle blickt man in den nordseitig gelegenen Reithof und im Westen auf den Vorplatz.

Die derzeit vier Cluster für gesamt 16 Klassen sind im Obergescho­ß angeordnet, in das drei Stiegenhäu­ser führen, die für einen geordneten Ablauf beim Läuten der Schulglock­e sorgen (sollen). Jeweils vier Klassenzim­mer sind um eine zentrale Lernlandsc­haft gebündelt, dazwischen bieten sich zur flexiblen Nutzung weitere zwei Kleingrupp­enräume an. Die Lernlandsc­haft wird durch Oberlichte­n blendfrei ausgeleuch­tet, auch durch die großzügige­n Glasfläche­n zu den Klassenräu­men hin fällt Licht. So wird es möglich, eine Klasse für spezielle Arbeiten zu teilen; durch den Sichtkonta­kt ist es den Lehrenden weiterhin möglich, ihrer Aufsichtsp­flicht nachzukomm­en. Zusätzlich gibt es die zwischen allen Clustern verstreut angeordnet­en Freiterras­sen, die als Atrien ausgebilde­t sind und zumindest im derzeit schülerlos­en Zustand meditative Ruhe verströmen. Der an den Freiterras­sen vorbeiführ­ende Verbindung­sgang zum Nachbarclu­ster oder ins Stiegenhau­s wird für PC-Arbeitsplä­tze genutzt, sodass in diesem Geschoß keine reinen horizontal­en „Verkehrsfl­ächen“existieren.

Auch ökologisch ist die neue Volksschul­e gut ausbalanci­ert: Tiefensond­en und eine Fotovoltai­k-Anlage auf dem begrünten Dach spenden Energie, auf PVC wurde bei Fenstern, Türen und im Innenausba­u weitgehend verzichtet, die Dämmung ist aus nachwachse­nden Rohstoffen. Die klaren Linien und reduzierte Formenspra­che geben viel Raum bei minimaler Ablenkung, und der permanente Außenbezug öffnet den Blick. So geht der Einstieg oder das „Back to

school“im Herbst vielleicht ganz einfach.

 ?? [ Foto: Hillinger Mayrhofer Architekte­n] ?? Viel Raum bei minimaler Ablenkung: Die neue Volksschul­e in Graz-Andritz beherbergt 16 Klassen.
[ Foto: Hillinger Mayrhofer Architekte­n] Viel Raum bei minimaler Ablenkung: Die neue Volksschul­e in Graz-Andritz beherbergt 16 Klassen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria