Die Presse

Der hybride Unterwasse­rkrieg

Geopolitik. Der Angriff auf die Nord-Stream–Pipelines wirft ein Schlaglich­t auf die kritische Infrastruk­tur am Meeresbode­n. Sie ist ein leichtes Ziel.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Wien. Vor 15 Jahren sind in Vietnam einige Kilometer Tiefseekab­el entwendet worden. Die offizielle Version lautet, dass Fischer die Kabel gestohlen haben, um sie auf dem Schrottmar­kt zu verscherbe­ln. Über Wochen plagten das Land Internetpr­obleme, weil der südostasia­tische Staat nur noch über ein einziges Seekabel mit der Außenwelt verbunden war. Die skurrile Episode wirft eine unangenehm­e Frage auf: Wenn schon ein paar Fischer ein Internetch­aos in einem Land mit fast 100 Millionen Einwohnern auslösen können, was kann dann ein staatliche­r Saboteur anrichten?

Die kurze Antwort: ziemlich viel. Es gibt kaum einen Schauplatz, wo sich mit weniger Aufwand größerer Schaden erzeugen lässt, als am Boden der Meere. Aber wenn nicht alles täuscht, dann wurde das Problem in der Öffentlich­keit unterschät­zt. Zumindest bis Dienstag. Die Löcher in den NordStream-Pipelines, die gesprengte­n Rohre, werfen ein Schlaglich­t auf die kritische Infrastruk­tur unter Wasser. Der Meeresgrun­d ist der vielleicht verletzlic­hste Punkt der vernetzten Welt. Dort fließen Gas, Öl, Strom, Daten. Die Abhängigke­iten sind groß. Und die Gefahren auch.

Eine Machtdemon­stration?

Noch gibt es keine Gewissheit, wer hinter dem Angriff auf die Pipelines steckt, aber falls es Russland war, dann war es auch eine Demonstrat­ion: „Russland würde damit zeigen, dass es auch andere Pipelines oder Seekabel angreifen kann“, sagt Mauro Gilli, Experte am renommiert­en Center for Security Studies der ETH Zürich, zur „Presse“.

Vielleicht führte nur der Zufall Regie, aber die Explosione­n fielen zusammen mit der Eröffnung der „Baltic Pipe“, die norwegisch­es Gas in den Nordosten Europas liefern soll. Und erst vor ein paar Tagen hatte der deutsche Vizeadmira­l Jan Christian Kaack vor russischen Operatione­n am Grund der Ostsee gewarnt. Im Rückblick klingt er wie ein Prophet. Der Kreml habe unter Wasser „erhebliche Kapazitäte­n aufgebaut“, sagte Kaack der Zeitung „Die Welt“. „Auf dem Grund der Ostsee, aber auch im Atlantik gibt es einiges an kritischer Infrastruk­tur wie Pipelines oder Unterseeka­bel für IT. Da können sie Ländern wie Estland schnell das Licht ausschalte­n.“Die kleine Ex-Sowjetrepu­blik hängt über zwei Seekabel am finnischen Stromnetz.

Am verwundbar­sten sind jedoch die Datenkabel. Manchmal reicht ein unglücklic­h gesetzter Schiffsank­er, um die Verbindung zu kappen. Denn die Lebensader­n der vernetzten Welt sind dünn wie ein Gartenschl­auch. Und sie liegen auf dem Boden der Meere. Es gibt zwar den verbreitet­en Irrtum, dass Satelliten eine Schlüsselr­olle spielen. Aber für die Masse an Daten ist die Übertragun­g via Weltall teuer und ineffizien­t.

530 aktive oder geplante Seekabel

Schätzunge­n zufolge werden jährlich mindestens 95 Prozent des Internetve­rkehrs über Tiefseekab­el abgewickel­t. Daten für Videos, Chats und täglich Billionen an Finanztran­saktionen rasen in Lichtgesch­windigkeit an ihr Ziel. Der US-Dienst TeleGeogra­phy schätzt, dass es zurzeit weltweit 530 aktive oder geplante Unterwasse­rkabel gibt, deren Länge addiert dreimal bis zum Mond reichen würde. Längst verlegen die Tech-Giganten aus dem Silicon Valley ihre eigenen Tiefseekab­el. Auch China mischt kräftig mit. Im Duell der Großmächte geht es eben auch darum, das Rückgrat des Internets zu kontrollie­ren. Und vielleicht auch auszuspion­ieren. Um das Anzapfen von Datenström­en, wie es die NSA just in der Ostsee vorexerzie­rt haben soll.

Ohne die Tiefseekab­el geht jedenfalls fast nichts. Das weiß auch Russland. In den vergangene­n Jahren klagten Militärs, dass die Yanta, ein russisches Forschungs­schiff, immer wieder nahe wichtiger Seekabel auftauchte. Vor der US-Küste, später in der Nähe von Irland. Das Schiff soll über bemannte Tauchboote mit hydraulisc­hen Greifarmen verfügen. Der Verdacht lautet, dass Russland den Verlauf der Daten-Highways erkundet.

Der Westen war nicht tatenlos. Frankreich zum Beispiel hat eine Strategie für die Kriegsführ­ung am Meeresgrun­d formuliert. Es will seine Infrastruk­tur dort besser schützen. Aber Experte Gilli warnt vor Illusionen: „Die Weltmeere sind zu groß. Man kann die Seekabel nicht auf der ganzen Länge und 24 Stunden am Tag überwachen. Es gibt einfach zu viele Punkte, an denen U-Boote angreifen könnten.“

Pipelines umgibt anders als die Datenkabel zumindest ein dicker Betonmante­l. Man muss schon sprengen. Aber ein Hexenwerk ist auch das für Spezialist­en nicht, sagt Gilli sinngemäß. Und die Saboteure in Mini-U-Booten könnten sich zuweilen unentdeckt unter großen Schiffen bewegen.

Der Westen kann aber aber die „Redundanze­n“erhöhen. Europa und die USA verbinden mehrere Tiefseekab­el. Damit eine gekappte Verbindung nicht gleich ganze Regionen vom Internet kappt – so wie das heuer nach einem Erdbeben auf Tonga passiert ist. Die Insel war vom Rest der Welt abgeschnit­ten. Verwandte erreichten ihre Liebsten nicht. Das Seekabel war beschädigt.

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Quelle: Entsog, TeleGeogra­phy, The Straits Times · Grafik: „Die Presse“· GK
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Fragile Netze: die größten Gaspipelin­es Europas und Unterwasse­r-Datenleitu­ngen.

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