Der hybride Unterwasserkrieg
Geopolitik. Der Angriff auf die Nord-Stream–Pipelines wirft ein Schlaglicht auf die kritische Infrastruktur am Meeresboden. Sie ist ein leichtes Ziel.
Wien. Vor 15 Jahren sind in Vietnam einige Kilometer Tiefseekabel entwendet worden. Die offizielle Version lautet, dass Fischer die Kabel gestohlen haben, um sie auf dem Schrottmarkt zu verscherbeln. Über Wochen plagten das Land Internetprobleme, weil der südostasiatische Staat nur noch über ein einziges Seekabel mit der Außenwelt verbunden war. Die skurrile Episode wirft eine unangenehme Frage auf: Wenn schon ein paar Fischer ein Internetchaos in einem Land mit fast 100 Millionen Einwohnern auslösen können, was kann dann ein staatlicher Saboteur anrichten?
Die kurze Antwort: ziemlich viel. Es gibt kaum einen Schauplatz, wo sich mit weniger Aufwand größerer Schaden erzeugen lässt, als am Boden der Meere. Aber wenn nicht alles täuscht, dann wurde das Problem in der Öffentlichkeit unterschätzt. Zumindest bis Dienstag. Die Löcher in den NordStream-Pipelines, die gesprengten Rohre, werfen ein Schlaglicht auf die kritische Infrastruktur unter Wasser. Der Meeresgrund ist der vielleicht verletzlichste Punkt der vernetzten Welt. Dort fließen Gas, Öl, Strom, Daten. Die Abhängigkeiten sind groß. Und die Gefahren auch.
Eine Machtdemonstration?
Noch gibt es keine Gewissheit, wer hinter dem Angriff auf die Pipelines steckt, aber falls es Russland war, dann war es auch eine Demonstration: „Russland würde damit zeigen, dass es auch andere Pipelines oder Seekabel angreifen kann“, sagt Mauro Gilli, Experte am renommierten Center for Security Studies der ETH Zürich, zur „Presse“.
Vielleicht führte nur der Zufall Regie, aber die Explosionen fielen zusammen mit der Eröffnung der „Baltic Pipe“, die norwegisches Gas in den Nordosten Europas liefern soll. Und erst vor ein paar Tagen hatte der deutsche Vizeadmiral Jan Christian Kaack vor russischen Operationen am Grund der Ostsee gewarnt. Im Rückblick klingt er wie ein Prophet. Der Kreml habe unter Wasser „erhebliche Kapazitäten aufgebaut“, sagte Kaack der Zeitung „Die Welt“. „Auf dem Grund der Ostsee, aber auch im Atlantik gibt es einiges an kritischer Infrastruktur wie Pipelines oder Unterseekabel für IT. Da können sie Ländern wie Estland schnell das Licht ausschalten.“Die kleine Ex-Sowjetrepublik hängt über zwei Seekabel am finnischen Stromnetz.
Am verwundbarsten sind jedoch die Datenkabel. Manchmal reicht ein unglücklich gesetzter Schiffsanker, um die Verbindung zu kappen. Denn die Lebensadern der vernetzten Welt sind dünn wie ein Gartenschlauch. Und sie liegen auf dem Boden der Meere. Es gibt zwar den verbreiteten Irrtum, dass Satelliten eine Schlüsselrolle spielen. Aber für die Masse an Daten ist die Übertragung via Weltall teuer und ineffizient.
530 aktive oder geplante Seekabel
Schätzungen zufolge werden jährlich mindestens 95 Prozent des Internetverkehrs über Tiefseekabel abgewickelt. Daten für Videos, Chats und täglich Billionen an Finanztransaktionen rasen in Lichtgeschwindigkeit an ihr Ziel. Der US-Dienst TeleGeography schätzt, dass es zurzeit weltweit 530 aktive oder geplante Unterwasserkabel gibt, deren Länge addiert dreimal bis zum Mond reichen würde. Längst verlegen die Tech-Giganten aus dem Silicon Valley ihre eigenen Tiefseekabel. Auch China mischt kräftig mit. Im Duell der Großmächte geht es eben auch darum, das Rückgrat des Internets zu kontrollieren. Und vielleicht auch auszuspionieren. Um das Anzapfen von Datenströmen, wie es die NSA just in der Ostsee vorexerziert haben soll.
Ohne die Tiefseekabel geht jedenfalls fast nichts. Das weiß auch Russland. In den vergangenen Jahren klagten Militärs, dass die Yanta, ein russisches Forschungsschiff, immer wieder nahe wichtiger Seekabel auftauchte. Vor der US-Küste, später in der Nähe von Irland. Das Schiff soll über bemannte Tauchboote mit hydraulischen Greifarmen verfügen. Der Verdacht lautet, dass Russland den Verlauf der Daten-Highways erkundet.
Der Westen war nicht tatenlos. Frankreich zum Beispiel hat eine Strategie für die Kriegsführung am Meeresgrund formuliert. Es will seine Infrastruktur dort besser schützen. Aber Experte Gilli warnt vor Illusionen: „Die Weltmeere sind zu groß. Man kann die Seekabel nicht auf der ganzen Länge und 24 Stunden am Tag überwachen. Es gibt einfach zu viele Punkte, an denen U-Boote angreifen könnten.“
Pipelines umgibt anders als die Datenkabel zumindest ein dicker Betonmantel. Man muss schon sprengen. Aber ein Hexenwerk ist auch das für Spezialisten nicht, sagt Gilli sinngemäß. Und die Saboteure in Mini-U-Booten könnten sich zuweilen unentdeckt unter großen Schiffen bewegen.
Der Westen kann aber aber die „Redundanzen“erhöhen. Europa und die USA verbinden mehrere Tiefseekabel. Damit eine gekappte Verbindung nicht gleich ganze Regionen vom Internet kappt – so wie das heuer nach einem Erdbeben auf Tonga passiert ist. Die Insel war vom Rest der Welt abgeschnitten. Verwandte erreichten ihre Liebsten nicht. Das Seekabel war beschädigt.