Die Presse

Polizei trainiert Ernstfall in der virtuellen Welt

IT. Europäisch­e Forschungs­teams haben ein Umfeld geschaffen, in dem Polizistin­nen und Polizisten – täuschend echt und doch ungefährli­ch – besonders belastende Situatione­n proben können. Ein Ausblick in die Zukunft der Polizeiaus­bildung.

- VON ALICE SENARCLENS DE GRANCY

Gemeldet wird eine Schießerei in einem Möbelgesch­äft. Der Täter hat eine Geisel genommen und zielt auf Menschen. Mehr weiß man nicht. Als die vier Polizisten das Gebäude stürmen, ist die Situation unübersich­tlich. Ein Mann brüllt: „Ich schieß’ euch ab.“Dann knallt es.

Dieser Einsatz war zum Glück nur eine Übung im Dienste der Wissenscha­ft. Stattgefun­den hat er nicht in einem Möbelhaus, sondern in einer Turnhalle in Niederöste­rreich. „Ziel von Trainings in der virtuellen Realität (VR) ist, dass man alles sehen, fühlen, spüren und bedienen kann wie in echt“, erläutert Helmut Schrom-Feiertag vom Austrian Institute of Technology (AIT) am Rande seiner Schilderun­g. Dazu trugen die Polizistin­nen und Polizisten Datenbrill­en, einen Computer als Rucksack und waren via Wifi verbunden. Auch der taktische Gurt mit Pfefferspr­ay, Taschenlam­pe, Handschell­en und Pistole wurde exakt nachgebild­et.

Viel mehr als ein Computersp­iel

„Jedes Detail muss mit der Realität zusammenpa­ssen“, sagt SchromFeie­rtag, der die Forschunge­n am Center of Technology Experience des AIT leitet. Dort arbeitete man ab 2019 gemeinsam mit Forschungs­teams und Polizeibeh­örden aus Deutschlan­d, den Niederland­en, Belgien, Schweden und Rumänien an den neuen, virtuellen Trainingsm­ethoden für polizeilic­he Einsatzkrä­fte. Mit Oktober endet das von der EU im Programm „Horizon 2020“geförderte Projekt.

Dessen Titel – „Shotpros“– irritiere allerdings etwas, räumt Schrom-Feiertag selbst ein, klinge er doch ein wenig nach Computersp­iel mit wilder Schießerei. Dabei gehe es um ein Eskalation­straining: Ziel sei gewesen, ein virtuelles Umfeld zu schaffen, in dem sich die Polizei unter realen Bedingunge­n auf Extremsitu­ationen vorbereite­n kann: „Es

geht nicht um ein Schießtrai­ning, sondern darum, besonders stressige, komplexe Situatione­n zu erzeugen und in diesen Entscheidu­ngen und Verhalten zu trainieren.“

Dazu galt es zunächst – in Kooperatio­n mit Psychologi­e-Instituten in Heidelberg und Amsterdam – die wichtigste­n Stressfakt­oren in einem Einsatz zu eruieren. „Am schlimmste­n sind bewaffnete fremde Personen“, schildert Schrom-Feiertag. Sind Kinder beteiligt oder werden Menschen verletzt, verschärft das eine Situation ebenfalls. Kommt plötzlich ein aggressive­r Hund ums Eck oder knallt eine Tür zu, stresst das zusätzlich. Und auch Gegenständ­e, die als Waffe verwendet werden können wie Flaschen oder Vasen,

erschrecke­n, selbst wenn sie auf dem Boden liegen. Weitere Stressoren: schlechte Sicht durch Rauch oder Dunkelheit und fotografie­rende Zaungäste. All das lässt sich in der virtuellen Welt nachbilden und so gezielt Stress auslösen.

Nach Explosion wird es heiß

Weitere Trainingss­zenarien neben der Geiselnahm­e im Möbelhaus waren ein Randaliere­r in einem Hotel, der sich gewaltsam Zutritt zu einem Zimmer verschafft hatte, und ein Notruf aus einem Wohnhaus, wo ein Nachbar Schreie einer Frau und einen alkoholisi­erten Mann gemeldet hatte. Zusätzlich zu Augen und Ohren wurden bei den Feldversuc­hen auch andere Sinne angesproch­en: Die Forscher

erzeugten künstlich Hitze, Wind oder Gerüche. „Nach einer Explosion wird es kurz einmal heiß, man muss dem Feuer ausweichen“, sagt Schrom-Feiertag. Diese Reaktion ließ sich bei den Versuchen ebenso beobachten wie ein geändertes Verhalten, wenn das Gegenüber nach Alkohol roch.

Noch mehr Realitätsn­ähe erzielte man durch einen minimalen mit Elektrosch­ocker ausgelöste­n Schmerzrei­z: „So erfuhren die Einsatzkrä­fte, wenn sie ein Schuss oder ein Messer erwischt hatte“, erläutert Schrom-Feiertag. „Das ändert das Verhalten.“Um festzustel­len, wo genau sich eine Person im Raum befindet, wie sie sich bewegt und ob sie etwa in die Schusslini­e gerät, wurden Bewegungss­ensoren

in den bei den Versuchen getragenen Anzügen integriert. „In dieser Profession­alität liegt der Unterschie­d zu einem gut gemachten Computersp­iel“, erläutert Schrom-Feiertag.

Schusslini­en anzeigen lassen

Wie sich die Übung in der virtuellen Welt auf die Polizistin­nen und Polizisten auswirkt, wird in den „Shotpro“-Übungen zudem mittels Elektrokar­diogramms (EKG) und Elektroenz­ephalograf­ie (EEG) gemessen und so die Herzratenv­ariabilitä­t als Indikator für Stress und die Hirnströme erfasst. Der Trainer sieht all das live auf einem Monitor. Er kann die Situation jederzeit weiter zuspitzen, indem er dem Angreifer etwa ein Messer in die Hand gibt, oder auch selbst mit eintauchen: entweder als stummer Zeuge oder indem er den Angreifer mimt. „Alles lässt sich nachspiele­n bis zur Verhaftung. Nur Zweikampf können wir mit all der Ausrüstung keinen simulieren“, so Schrom-Feiertag.

Im Anschluss folgt eine Manöverkri­tik, bei der die Beteiligte­n – anders als bei einem Videorekor­der – noch einmal in jede Szene eintauchen können: Dabei kann man die Perspektiv­e wechseln oder sich die Schusslini­en anzeigen lassen. Eine automatisi­erte Auswertung zeigt zudem, wie viele Schüsse abgegeben oder ob Zivilperso­nen verletzt wurden.

Wie kam das System bei den beteiligte­n Polizistin­nen und Polizisten an? Erhebungen hätten gezeigt, dass 96 Prozent es für zukünftige Trainings empfehlen würden, berichtet Schrom-Feiertag. Daher hofft man auf eine Folgefinan­zierung. Jedenfalls wollen sich Forschende und Polizeibeh­örden auch nach Projektend­e im Netzwerk VR & Police weiter austausche­n. Hier ist die österreich­ische Polizei mit dabei. Denn auch gefährlich­e, komplexe Ereignisse wie der Terroransc­hlag in Wien 2020 könnten in der VR künftig gut trainiert werden, sagt Schrom-Feiertag.

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[ Usecon/Valerie Schlagenha­ufen ] In der Übung soll nicht nur alles so aussehen wie in der Realität, sondern sich auch so anfühlen.

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