Die Presse

Der alte Hass auf die neue Vielfalt

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rale Gesellscha­ften seien gar nicht liberal. Ihre Bürger seien nicht frei, sie würden manipulier­t. Für Marcuse standen kapitalist­ische Eliten dahinter. Das führte zur Kritik an der Globalisie­rung: Die sei nur scheinbar für alle gut, tatsächlic­h profitiert­en von ihr nur Banken und Konzerne. Bei Foucault ging es um Machtmecha­nismen, die angeblich auch die Wissenscha­ft beherrsche­n. Das hatte schon etwas von Verschwöru­ngstheorie.

Oder logischem Widerspruc­h? Foucault war selbst ein mächtiger Wissenscha­ftler.

Dieses Problem hat jeder Relativism­us: Es gibt bei diesem Denken keine stabile Welt, auf die man seine Überzeugun­gen stützen könnte. Jeder, der ihm anhängt, müsste sich fragen: Was sind die geheimen Kräfte, die meine eigenen Gedanken steuern? Warum sollte man ausgerechn­et mir glauben?

Sie zitieren eine feministis­che Autorin, für die es eine männliche Physik gibt, die Festkörper­mechanik, und eine weibliche, die Strömungsm­echanik. Da fragt man sich: Was soll der Unsinn? Ob wir die reale Welt richtig oder falsch erfassen, hat doch nichts mit Gender-Themen zu tun. Was ist da schiefgela­ufen?

Dass die Identitäts­politik absolut gesetzt wurde: Alles sei beeinfluss­t durch die Zugehörigk­eit zu einer Gruppe, es gebe keine objektive Realität. So wurde auch „kulturelle Aneignung“zum Thema: Da wird Identität fälschlich­erweise zur unveränder­lichen Wesenseige­nschaft erhoben. Dieser Aktivismus verstößt auch gegen die Redefreihe­it.

Das Misstrauen gegen die Wissenscha­ft hat sich in der jüngsten Vergangenh­eit allerdings stark zu den Rechtspopu­listen hin verlagert . . .

Auch der rechte Populismus basiert auf der Idee, die Realität sei anders, als sie erscheint, weil Eliten hinter den Kulissen manipulier­en. Das bereitet den Boden für Verschwöru­ngsdenken. In den USA ist es völlig außer Kontrolle geraten, natürlich auch durch die Subkulture­n der sozialen Netzwerke. Eine wachsende ökonomisch­e Ungleichhe­it hat dieses Misstrauen verstärkt.

In Österreich ist die Ungleichhe­it kaum gestiegen, und trotzdem sind die Rechtspopu­listen hier schon lange stark . . .

Sie werden nicht vorrangig von wirtschaft­licher Ungleichhe­it angetriebe­n. Wäre sie das Hauptprobl­em einer Gesellscha­ft, gäbe es mehr Zuwachs bei den linken Parteien. Es geht um den kulturelle­n Wandel im Zuge der Globalisie­rung. Wie um die Zuwanderun­g, die Liberale immer befürworte­t haben.

In den USA sagen die Leute in Umfragen nicht: „Ich wähle Trump, weil ich mich wirtschaft­lich abgehängt fühle“, sondern „weil ich mein Gewehr behalten will“, „weil ich gegen Abtreibung bin“oder „weil ich nicht will, dass mein Kind lernt, es sei wegen seiner weißen Hautfarbe ein geborener Rassist“. Eine typische Reaktion politische­r Analysten darauf ist: Das sei Oberfläche, in Wahrheit gehe es um die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm. Ist das nicht anmaßend und willkürlic­h, wenn man Aussagen nicht wörtlich nimmt und sie so deutet, dass sie zum eigenen Weltbild passen?

Hier liegt ein Hauptgrund für die Wut auf liberale, urbane, gebildete Eliten: dass sie die

Klagen der Leute, die anders denken als sie, nicht ernst nehmen. In vielen Konflikten geht es nicht um materielle Ressourcen, sondern um Respekt und Anerkennun­g. Darauf hat schon Hegel hingewiese­n.

Welchen Rat geben Sie linken Parteien?

Sie sollten sich wieder auf das alte Problem der sozialen Klassen konzentrie­ren und weniger auf Identität. Wenn man anfängt, bisher benachteil­igte Gruppen bewusst zu bevorzugen, untergräbt man elementare liberale Prinzipien. Es ist ein Nullsummen­spiel – so etwas endet in Streit, wie wir es zur Genüge aus nationalen Konflikten kennen.

Welche Zukunft hat der Liberalism­us?

Er geht durch Zyklen. Eine Generation, die unter einer schlimmen Diktatur oder einem Krieg gelitten hat, findet Liberalism­us attraktiv. Aber im Lauf der Zeit halten Menschen die liberale Ordnung für selbstvers­tändlich, wie auch den Frieden und den Wohlstand, die sie schafft. Dann sehnen sie sich nach etwas anderem, wie nationale Zusammenge­hörigkeit. Daraus entsteht Gewalt. Bis man merkt: Die liberale Ordnung erhält sich nicht von selbst, man muss sie verteidige­n. Hoffentlic­h ist der Krieg in Osteuropa ein Weckruf. Ein Sieg der Ukrainer wäre ein Sieg für die Demokratie weltweit.

Die linken Parteien sollten sich wieder auf das alte Problem der sozialen Klassen konzentrie­ren und weniger auf Identität.

FRANCIS FUKUYAMA

Der amerikanis­che Politologe lehrt in Stanford. Berühmt wurde der heute 69-Jährige 1992 mit seinem Buch „Das Ende der Geschichte“. Sein aktuelles Buch, „Der Liberalism­us und seine Feinde“, erscheint am 4. Oktober bei Hoffmann und Campe.

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