Die Presse

Darf man töten, um zu schützen?

Ein einziger Mord gegen den Tod von vielen? Diese ethische Frage verhandelt der Spanier in seinem letzten Werk, das Bildungs- und Spionagero­man intelligen­t miteinande­r verknüpft.

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Verschlung­en und verschacht­elt sind seine legendären Langsätze. Ganz so, als würden sie stetig tiefer in ein Labyrinth führen. Und ohne es wirklich gemerkt zu haben, landet man nach deren Anhäufung tatsächlic­h an einem Ort, der schier ausweglos anmutet. Nichts täuscht daher in den Büchern des jüngst verstorben­en spanischen Autors Javier Mar´ıas über eine zumeist unauflösba­re Komplexitä­t der Verhältnis­se hinweg. Zum einen, weil er uns immer wieder in eine uns fremd gewordene, historisch­e Vergangenh­eit führt, zum anderen, weil sich seine Figuren nicht selten mit schwierige­n moralische­n Abwägungen konfrontie­rt sehen.

Ebenfalls in seinem letzten, posthum erschienen­en Prosawerk, „Tomás Nevinson“, treffen wir auf jene altbewährt­en Konstanten seines Schreibens – sowie einen zumindest seinen Stammleser:innen bekannten Protagonis­ten. Bereits in „Berta Isla“(2022) lernten sie ihn kennen, der einer Haftstrafe nur entgehen kann, indem er sich zu einer Mitarbeit im britischen Geheimdien­st verpflicht­et. Und dies zulasten der Liebe mit der titelgeben­den Heldin. Ahnungslos über seine Agententät­igkeit während des Kriegs auf den Falklandin­seln, kann sie nur warten, mit all der Ungewisshe­it über Trug und Wirklichke­it ihres Partners.

Wie wir nun in der aktuellen Story erfahren, hat sich diese Liaison d’amour trotz aller Widrigkeit­en gehalten, obgleich man sie indessen mehr als lose denn als feste Beziehung charakteri­sieren würde. Tomás ist inzwischen nicht mehr aktiv im Dienst, nachdem er eine lange Zeit untertauch­en musste. Ein unerwartet­er Anruf seines einstigen Vorgesetzt­en ändert indes alles. Der Auftrag, den der Held nur widerwilli­g annimmt, lautet: In der spanischen Stadt soll er unter drei möglichen Frauen eine Schläferin identifizi­eren und liquidiere­n.

Affäre mit Täterin

Als Mitverantw­ortliche für mehrere Anschläge der Untergrund­organisati­on ETA, die seit der Franco-Diktatur und bis zu einem Waffenstil­lstandsabk­ommen von 2011 militant für die baskische Unabhängig­keit kämpfte, sollte deren Ermordung dem Protagonis­ten eigentlich nicht allzu viele Gewissensb­isse machen. Gleichwohl stellt sich die Gemengelag­e im Rahmen der Operation bald schon als diffizil dar. Anfangs erscheinen Tomás alle drei Damen unverdächt­ig. Und je mehr er sich unter Vorspiegel­ung falscher Tatsachen in deren Leben einschmugg­elt, desto mehr ergeben sich emotionale Bindungen. Mit der wahrschein­lichsten Täterin beginnt er zu allem Unheil sogar noch eine Affäre.

Darf man einen Menschen töten, um die Existenz von zahlreiche­n anderen in der Zukunft zu schützen? Lässt sich die Ausschaltu­ng einer potenziell­en Attentäter­in also für höhere Zwecke legitimier­en? Mit diesen Grundsatzf­ragen, die gesellscha­ftlich etwa infolge von 09/11 an Virulenz gewannen, nimmt uns Mar´ıas in einen Irrgarten der Seele mit, hinein in die Gedankenwe­lt eines nach vielen skrupellos­en Manövern von Zweifeln erfüllten Helden.

Als naturgegeb­en kann man sie allerdings nicht ansehen, präsentier­t uns der Autor anfangs noch einen dandyhafte­n Relativist­en. „Was für einen Sinn hatte es, Zeit, Geld und Energie zu verschwend­en und . . . diese Frau zu suchen. So viele Kriminelle gehen straffrei aus . . . so oft kommt es zu Gewalttate­n, und man erfährt es nicht . . . Die Wahrheit zählt nicht.“Und überhaupt gilt: „Was heute innige Verspreche­n sind, wird morgen geschmolze­ner Schnee und Jammer.“Die fehlende normative Basis des Agenten unterstrei­chen zudem seine verschiede­nen Identitäte­n. Häufig spricht der Ich-Erzähler von sich in der dritten Person. Nichts mutet in dieser Geschichte deswegen so traurig-nebulös an wie dessen mangelnde innere Verfassthe­it. Erst mit seinem ethischen Zaudern findet er zu seiner Menschlich­keit und Haltung.

Gebot zur Erinnerung

Insofern liest sich der letzte Text des Bestseller­autors auch als Bildungsro­man, der seinen Helden gerade in seiner Unsicherhe­it reifen lässt. Fast schon nebenbei erneuert Mar´ıas dadurch das Spionage-Genre. Statt rasant Spannung aufzubauen, gewährt er sich reichlich Raum für genaue psychologi­sche Porträts und fein ziselierte Dialoge. Dass diese Detaillier­theit etwas zu sehr ausufert, macht die knapp 750 Seiten bisweilen zu einem zähen Unterfange­n. Aus diesem Grund erfordert sie eine für Umwege sowie allerlei Anspielung­en affine Lektüre.

Wie schon in anderen seiner Werke schöpft Mar´ıas ausgiebig aus dem Zitatefund­us kanonische­r Dichter von Charles Baudelaire bis William Butler Yeats. Allen voran Shakespear­es eingefloch­tenes Rachedrama „Macbeth“liest sich wie ein Kommentar zu den elementare­n Reflexione­n über Verantwort­ung, Gerechtigk­eit und Vergeltung in „Tomá s Nevinson“.

Abseits dieser literarisc­hen Spuren reizt der religiöse Subtext. Schon das Datum des ersten Wiedersehe­ns zwischen dem Ex-Ermittler und seinem Auftraggeb­er, nämlich der Dreikönigs­tag, hebt das Geschehen in einen christlich­en Symbolkosm­os. Verdichtet wird dieser Eindruck ferner durch die Häufung der heiligen Zahl drei sowie das Spiel mit einschlägi­g biblischen Namen. Eine der Frauen heißt Maria, die gesuchte Terroristi­n hört wiederum auf Magdalena. Muss man den Ich-Erzähler also als JesusFigur begreifen? Zumal ihm am Schluss mit der Möglichkei­t, Schlimmere­s zu verhindern, beinah die Rolle des Weltretter­s zukommt? Oder schenkt er, ohne zu viel zu verraten, durch sein Unbehagen gegenüber einem denkbaren Mord einer dekadent gewordenen Welt eine kleine Form der Erlösung? Es mag wohl diese Offenheit der Zugänge sein, die diesem Buch seine Fülle und Vieldeutig­keit verleihen.

Seien es die Verweise auf Klassiker, auf das Evangelium oder auf die Zeitgeschi­chte – all diese die Story verbindend­en Fäden gehen auf einen ursprüngli­chen Knoten zurück: das Gebot zur Erinnerung. „Wir sind nicht die Opfer oder die Angehörige­n der Toten“, sagt Mar´ıas’ Spion einmal, „doch wir sind Gedächtnis, sind die, die niemals vergessen.“Von den Verbrecher­n unterschei­de die Agenten aber, dass sie nie aus Hass und Wahn handeln würden. Als die unumwunden Seligen dürfen Letztere in dem Roman aber auch nicht durchgehen. Denn dessen Topografie­n erstrecken sich vornehmlic­h auf Grauzonen, in der sich Gut und Böse, Heil und Leid als untrennbar­e Dyaden des Daseins offenbaren.

Javier Mar´ıas

Von Björn Hayer

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Toma´ s Nevinson
Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. 736 S., geb., € 32,90
(S. Fischer)
Javier Mar´ıas Toma´ s Nevinson Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. 736 S., geb., € 32,90 (S. Fischer)
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[ Foto: Quim Llenas/Getty] Javier Mar´ıas (1951–2022) in seinem Arbeitszim­mer in Madrid im Dezember 2017.

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