Die Presse

Die Flucht vor diesem unsinnigen Krieg ist nur menschlich

Russischen Deserteure­n und Putin-Gegnern sollte in der EU Asyl gewährt werden. Die Mitgliedst­aaten sind am Zug, eine gemeinsame Lösung zu finden.

- VON ANNA GABRIEL E-Mails an: anna.gabriel@diepresse.com

Warum erst jetzt?“, wollten auf Twitter, Instagram und Co. Tausende wissen, als die ersten verwackelt­en Videos heftiger Proteste in den sozialen Medien die Runde machten. Seit Russlands Präsident, Wladimir Putin, vor knapp zwei Wochen die „Teilmobilm­achung“, also den Einzug von 300.000 Reserviste­n in den Ukraine-Krieg, verkündet hat, regt sich in Teilen des Landes spürbarer Widerstand gegen den Kreml. Es sind Männer, die nicht in einem sinnlosen Krieg sterben wollen, und Frauen, die Angst um ihre Familien haben – Angst, den Ehemann, Sohn oder Bruder für immer zu verlieren. Viele von ihnen sehen ihre einzige Chance nun in der Flucht aus dem Heimatland: Zigtausend­e Russen sind in den vergangene­n Tagen Richtung Westen aufgebroch­en, ihre Autos reihten sich dicht an dicht an den südöstlich­en Grenzüberg­ängen zu Finnland, wo die Chance auf eine Einreise in die EU über Land zuletzt noch am größten war.

Die baltischen Länder wollen den Deserteure­n kein Asyl gewähren. „Russische Männer sollten sich dem Krieg widersetze­n“, fordert Estlands Ministerpr­äsidentin, Kaja Kallas. Diese kämpferisc­he Rhetorik mag als Botschaft an Putin ihre Berechtigu­ng haben, lässt aber die persönlich­en Schicksale der Einberufen­en außer Acht – darunter unzählige Väter und Männer ohne Kampferfah­rung. Ihnen droht bei Verweigeru­ng des Kriegsdien­stes eine zehnjährig­e Haftstrafe – so sieht es ein neues Gesetz vor. Zwar stehen auf Fahnenfluc­ht sogar 15 Jahre. Doch die Chance, dieser Strafe – einmal in der EU – zu entkommen, ist ungleich höher.

Die Hoffnung vieler Russen auf Asyl in einem EU-Mitgliedst­aat ist daher nur verständli­ch. Doch die Lage ist komplizier­ter, als man annehmen würde. Neben den Balten weigern sich auch Polen und Tschechien, Kriegsdien­stverweige­rer bei sich aufzunehme­n. Finnland will verständli­cherweise nicht länger Transitlan­d für jene sein, die ein touristisc­hes Schengen-Visum an einer beliebigen EU-Botschaft in Russland gestellt haben und problemlos einreisen könnten. Für Flüchtende würde die Grenze offen bleiben, heißt es in Helsinki – vorerst.

Deutschlan­d wiederum signalisie­rt Bereitscha­ft zur Aufnahme von Deserteure­n,

pocht aber auf eine einheitlic­he Lösung in der EU – wohl aus Angst, die Flüchtling­szahlen könnten sonst punktuell exorbitant in die Höhe schnellen.

Wir erinnern uns: Kurz nach Kriegsbegi­nn in der Ukraine einigten sich die Mitgliedst­aaten zügig auf die erstmalige Aktivierun­g der Massenzust­rom-Richtlinie. Sie sieht den unmittelba­ren Schutz ukrainisch­er Staatsbürg­er in jedem beliebigen EU-Land vor – ohne dass diese einen Asylantrag stellen müssen. Die Flüchtling­e erhalten einen Aufenthalt­stitel für ein Jahr und dürfen arbeiten.

Eine solche Ausnahmere­gelung gilt im Fall der russischen Flüchtling­e als ausgeschlo­ssen: Zu schwer wiegt nicht nur im Osten der EU, sondern auch in Wien, Berlin und anderen Hauptstädt­en die berechtigt­e Angst vor der Einschleus­ung von Agenten durch den Kreml. Die Kommission mahnt deshalb zu einer genauen Kontrolle aller einreisend­en Russen. In Österreich wird die Aufnahme der Deserteure mittels Einzelfall­prüfung gehandhabt. Grundsätzl­ich gilt: Wer gegen seinen Willen in eine Armee einberufen wird, die Kriegsverb­rechen begeht, ist asylberech­tigt. Das ist hier ohne Zweifel der Fall. Im Übrigen sind die Zahlen ohnehin überschaub­ar: Kaum 200 Russen hat Österreich bisher Schutz gewährt.

Es verdient großen Respekt, Kriegstrei­ber Putin die Stirn zu bieten, sich den Protesten anzuschlie­ßen und sich so der Gefahr einer langjährig­en Haftstrafe oder gar des Todes auszusetze­n.

Doch es ist auch allzu menschlich, vor diesem kriegerisc­hen Irrsinn zu fliehen, der schon so viele Menschenle­ben gekostet hat. Wer in der EU Schutz sucht, soll Asyl erhalten: Dieser Grundsatz muss auch jetzt Anwendung finden – trotz der Tatsache, dass unter den Flüchtende­n auch solche sind, die den Krieg vor Kurzem noch befürworte­t haben. Für die Union kann das die Chance sein, die westfeindl­iche Propaganda des Kreml-Herrschers als solche zu enttarnen – in der Hoffnung, dass Putin eher früher als später gestürzt wird.

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