Die Flucht vor diesem unsinnigen Krieg ist nur menschlich
Russischen Deserteuren und Putin-Gegnern sollte in der EU Asyl gewährt werden. Die Mitgliedstaaten sind am Zug, eine gemeinsame Lösung zu finden.
Warum erst jetzt?“, wollten auf Twitter, Instagram und Co. Tausende wissen, als die ersten verwackelten Videos heftiger Proteste in den sozialen Medien die Runde machten. Seit Russlands Präsident, Wladimir Putin, vor knapp zwei Wochen die „Teilmobilmachung“, also den Einzug von 300.000 Reservisten in den Ukraine-Krieg, verkündet hat, regt sich in Teilen des Landes spürbarer Widerstand gegen den Kreml. Es sind Männer, die nicht in einem sinnlosen Krieg sterben wollen, und Frauen, die Angst um ihre Familien haben – Angst, den Ehemann, Sohn oder Bruder für immer zu verlieren. Viele von ihnen sehen ihre einzige Chance nun in der Flucht aus dem Heimatland: Zigtausende Russen sind in den vergangenen Tagen Richtung Westen aufgebrochen, ihre Autos reihten sich dicht an dicht an den südöstlichen Grenzübergängen zu Finnland, wo die Chance auf eine Einreise in die EU über Land zuletzt noch am größten war.
Die baltischen Länder wollen den Deserteuren kein Asyl gewähren. „Russische Männer sollten sich dem Krieg widersetzen“, fordert Estlands Ministerpräsidentin, Kaja Kallas. Diese kämpferische Rhetorik mag als Botschaft an Putin ihre Berechtigung haben, lässt aber die persönlichen Schicksale der Einberufenen außer Acht – darunter unzählige Väter und Männer ohne Kampferfahrung. Ihnen droht bei Verweigerung des Kriegsdienstes eine zehnjährige Haftstrafe – so sieht es ein neues Gesetz vor. Zwar stehen auf Fahnenflucht sogar 15 Jahre. Doch die Chance, dieser Strafe – einmal in der EU – zu entkommen, ist ungleich höher.
Die Hoffnung vieler Russen auf Asyl in einem EU-Mitgliedstaat ist daher nur verständlich. Doch die Lage ist komplizierter, als man annehmen würde. Neben den Balten weigern sich auch Polen und Tschechien, Kriegsdienstverweigerer bei sich aufzunehmen. Finnland will verständlicherweise nicht länger Transitland für jene sein, die ein touristisches Schengen-Visum an einer beliebigen EU-Botschaft in Russland gestellt haben und problemlos einreisen könnten. Für Flüchtende würde die Grenze offen bleiben, heißt es in Helsinki – vorerst.
Deutschland wiederum signalisiert Bereitschaft zur Aufnahme von Deserteuren,
pocht aber auf eine einheitliche Lösung in der EU – wohl aus Angst, die Flüchtlingszahlen könnten sonst punktuell exorbitant in die Höhe schnellen.
Wir erinnern uns: Kurz nach Kriegsbeginn in der Ukraine einigten sich die Mitgliedstaaten zügig auf die erstmalige Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie. Sie sieht den unmittelbaren Schutz ukrainischer Staatsbürger in jedem beliebigen EU-Land vor – ohne dass diese einen Asylantrag stellen müssen. Die Flüchtlinge erhalten einen Aufenthaltstitel für ein Jahr und dürfen arbeiten.
Eine solche Ausnahmeregelung gilt im Fall der russischen Flüchtlinge als ausgeschlossen: Zu schwer wiegt nicht nur im Osten der EU, sondern auch in Wien, Berlin und anderen Hauptstädten die berechtigte Angst vor der Einschleusung von Agenten durch den Kreml. Die Kommission mahnt deshalb zu einer genauen Kontrolle aller einreisenden Russen. In Österreich wird die Aufnahme der Deserteure mittels Einzelfallprüfung gehandhabt. Grundsätzlich gilt: Wer gegen seinen Willen in eine Armee einberufen wird, die Kriegsverbrechen begeht, ist asylberechtigt. Das ist hier ohne Zweifel der Fall. Im Übrigen sind die Zahlen ohnehin überschaubar: Kaum 200 Russen hat Österreich bisher Schutz gewährt.
Es verdient großen Respekt, Kriegstreiber Putin die Stirn zu bieten, sich den Protesten anzuschließen und sich so der Gefahr einer langjährigen Haftstrafe oder gar des Todes auszusetzen.
Doch es ist auch allzu menschlich, vor diesem kriegerischen Irrsinn zu fliehen, der schon so viele Menschenleben gekostet hat. Wer in der EU Schutz sucht, soll Asyl erhalten: Dieser Grundsatz muss auch jetzt Anwendung finden – trotz der Tatsache, dass unter den Flüchtenden auch solche sind, die den Krieg vor Kurzem noch befürwortet haben. Für die Union kann das die Chance sein, die westfeindliche Propaganda des Kreml-Herrschers als solche zu enttarnen – in der Hoffnung, dass Putin eher früher als später gestürzt wird.