Wie Kursstürze zum Kauf genutzt werden
Aktien. 2022 ist ein hartes Jahr für Investoren, die „Buy the Dip“als Strategie verfolgen. Oft greifen sie ins fallende Messer. Langfristig kann die Taktik dennoch aufgehen – wenn man weiß, worauf man sich einlässt. Und folgende Regeln beachtet.
New York. Wer Mitte Juni mutig genug war, um Aktien zu kaufen, konnte sich ein paar Monate lang freuen. Damals, am 16. Juni, stand der S&P 500 Index bei 3670 Punkten und einem Minus von mehr als 23 Prozent seit Beginn dieses Jahres. Es folgte eine klassische Bärenmarktrallye, bis Mitte August legte der wichtigste Aktienindex um 17 Prozent zu. Seitdem ging es wieder steil bergab, für Investoren heißt es also zurück zum Start: Vergangene Woche markierte der S&P 500 einen neuen Tiefstwert für 2022. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der aktuelle Bärenmarkt jüngere Kleinanleger auf dem falschen Fuß erwischt hat.
Finger verbrannt
Viele von ihnen haben rund um den Ausbruch der Pandemie im Frühling 2020 viel Geld verdient, weil sie die „Buy the Dip“-Strategie verfolgt haben. Dabei werden Kursabstürze zum Kauf verwendet – in der Hoffnung, dass über kurz oder lang noch jedes Rekordhoch wieder übertroffen wird. Vor zwei Jahren ging es sehr schnell: Der im März 2020 begonnene Bärenmarkt wurde im April für beendet erklärt und schon im November fielen wieder die Rekorde.
Aktuell ist die Lage deutlich verzwickter. Schnell gehen momentan vor allem die Zinserhöhungen
der Notenbank Fed. Von neuen Rekordhochs sind die Märkte wohl noch weit entfernt. Auch dass es noch deutlich weiter nach unten geht, ist möglich. Dass sich vorerst viele Kleinanleger die Finger verbrannt haben, zeigen Analysen von Vanda Research und Dow Jones Market Data.
So haben herkömmliche private Investoren in den USA das größte Volumen an Aktien genau an jenen bislang 50 Tagen im Jahr 2022 gekauft, an denen der S&P 500 Index um mindestens ein Prozent gefallen ist. Das ist ein Markenzeichen der klassischen „Buy the Dip“-Strategie, die sich 2020 als so erfolgreich erwiesen hat. Einzig: Heuer fiel der S&P 500 in der Woche nach einem Tagesminus von einem Prozent oder mehr in der Woche danach im Durchschnitt nochmals um 1,2 Prozent. Da wurde gutes Geld schlechtem Geld nachgeworfen, heißt es im Börsenjargon.
Schadenfreude fehl am Platz
Jetzt könnten all jene, die es schon immer gewusst haben und im aktuellen Umfeld die Finger von den Börsen lassen, auf den ersten Blick schadenfreudig strahlen. Doch Schadenfreude tut selten gut und es heißt noch lang nicht, dass die Mutigen am Ende nicht doch als Sieger dastehen. Wer Kursstürze bewusst zum Kauf verwendet, dabei eine klare Strategie verfolgt, das Handwerk versteht und zudem Emotionen im Zaum halten kann, wird langfristig vermutlich wohlhabender sein als zuvor.
Die Prämissen und die Strategie
Zunächst weiß der vernünftige „Buy the Dip“-Investor zu akzeptieren, dass es nicht möglich ist, das Ausmaß eines Marktabsturzes vorherzusagen. Es gilt, eine gute Taktik auszuarbeiten, die sowohl bei einem 20-prozentigen Marktminus wie auch bei einem 40- oder 60-prozentigen Einbruch langfristig Erfolg bringen kann. Ausgeschlossen wird lediglich die Möglichkeit, dass das kapitalistische Börsensystem und mit ihm die weltweit wichtigsten Aktienindizes überhaupt zur Gänze zusammenbrechen.
Wir halten an zwei Prämissen fest: Das exakte Minus kann nicht prophezeit werden, eine Apokalypse wird aber ausgeschlossen. Als nächster Schritt gilt es nun für Kurseinbrüche zwei wichtige Fragen zu klären: Was soll gekauft werden? Und wie viel davon zu welchem Zeitpunkt? Die Antwort auf die erste Frage hängt von der Expertise des Investors ab. Der USamerikanische Starinvestor Warren Buffett beispielsweise nutzt Verluste bei Einzeltiteln immer wieder zum Einstieg bei der jeweils betroffenen Firma. Er analysiert zahlreiche Kennzahlen, liest Bilanzen und verfügt über Jahrzehnte an entsprechender Erfahrung.
Ein herkömmlicher Kleinanleger, der über kein tiefes Finanzwissen verfügt und nur beschränkt Zeit hat, darf vorsichtiger sein. Einzelne Titel können immer weiter fallen. Firmen können bankrottgehen und der Griff ins fallende Messer kann in diesem Fall schlimm enden. Es hat mehr Sinn, sich auf den Gesamtmarkt zu konzentrieren, also etwa einen Indexfonds auf den S&P 500 oder den MSCI World zu kaufen.
Die Frage der Quantität
Wie viel gekauft werden soll, hängt vom Volumen des Portfolios und dem verfügbaren Bargeld ab. Es empfiehlt sich, einen Plan auszuarbeiten, der das Verhalten bis zu einem generellen Kursverlust von 50 Prozent, möglicherweise auch mehr, festlegt. Wichtig: Die Anlage muss langfristig erfolgen, man sollte also mindestens zehn Jahre lang nicht verkaufen müssen. Wer sich dazu verpflichten kann, darf eine Faustregel befolgen: Je schlimmer die Verluste, desto mehr wird gekauft.
Ein Strategiebeispiel
Ein extrem vereinfachtes Beispiel für eine wohlhabende Investorin mit gutem Einkommen, 600.000 Euro an investiertem Kapital und 200.000 Euro an Cash. Zusätzlich zu einem bereits bestehenden Investmentplan könnte sie nach den bereits erfolgten Verlusten 20.000 Euro in einen günstigen Indexfonds stecken. Dann definiert sie für etwaige weitere Abstürze Zeitpunkte für das Investment von zusätzlichen 30.000 Euro (etwa bei einem Gesamtminus von 30 Prozent) bis hin zu 60.000 Euro für das Extrem eines Gesamtminus von 60 Prozent. Für eine derartige Strategie braucht es viel Mut und die Fähigkeit, die eigenen Emotionen im Fall von herausfordernden Situationen zu kontrollieren. Außerdem konzentriert sich die Anlegerin in diesem Beispiel ausschließlich auf die Kurse und nicht auf das makroökonomische Umfeld oder andere Einflussfaktoren wie Krieg oder Frieden. Das ist nicht jedermanns Sache. Wer daran nicht glaubt oder wer befürchtet, im Fall der Fälle die Nerven zu verlieren, sollte einen anderen Plan als die „Buy the Dip“Strategie verfolgen.