Die Presse

Wie Kursstürze zum Kauf genutzt werden

Aktien. 2022 ist ein hartes Jahr für Investoren, die „Buy the Dip“als Strategie verfolgen. Oft greifen sie ins fallende Messer. Langfristi­g kann die Taktik dennoch aufgehen – wenn man weiß, worauf man sich einlässt. Und folgende Regeln beachtet.

- VON STEFAN RIECHER

New York. Wer Mitte Juni mutig genug war, um Aktien zu kaufen, konnte sich ein paar Monate lang freuen. Damals, am 16. Juni, stand der S&P 500 Index bei 3670 Punkten und einem Minus von mehr als 23 Prozent seit Beginn dieses Jahres. Es folgte eine klassische Bärenmarkt­rallye, bis Mitte August legte der wichtigste Aktieninde­x um 17 Prozent zu. Seitdem ging es wieder steil bergab, für Investoren heißt es also zurück zum Start: Vergangene Woche markierte der S&P 500 einen neuen Tiefstwert für 2022. Die Wahrschein­lichkeit ist groß, dass der aktuelle Bärenmarkt jüngere Kleinanleg­er auf dem falschen Fuß erwischt hat.

Finger verbrannt

Viele von ihnen haben rund um den Ausbruch der Pandemie im Frühling 2020 viel Geld verdient, weil sie die „Buy the Dip“-Strategie verfolgt haben. Dabei werden Kursabstür­ze zum Kauf verwendet – in der Hoffnung, dass über kurz oder lang noch jedes Rekordhoch wieder übertroffe­n wird. Vor zwei Jahren ging es sehr schnell: Der im März 2020 begonnene Bärenmarkt wurde im April für beendet erklärt und schon im November fielen wieder die Rekorde.

Aktuell ist die Lage deutlich verzwickte­r. Schnell gehen momentan vor allem die Zinserhöhu­ngen

der Notenbank Fed. Von neuen Rekordhoch­s sind die Märkte wohl noch weit entfernt. Auch dass es noch deutlich weiter nach unten geht, ist möglich. Dass sich vorerst viele Kleinanleg­er die Finger verbrannt haben, zeigen Analysen von Vanda Research und Dow Jones Market Data.

So haben herkömmlic­he private Investoren in den USA das größte Volumen an Aktien genau an jenen bislang 50 Tagen im Jahr 2022 gekauft, an denen der S&P 500 Index um mindestens ein Prozent gefallen ist. Das ist ein Markenzeic­hen der klassische­n „Buy the Dip“-Strategie, die sich 2020 als so erfolgreic­h erwiesen hat. Einzig: Heuer fiel der S&P 500 in der Woche nach einem Tagesminus von einem Prozent oder mehr in der Woche danach im Durchschni­tt nochmals um 1,2 Prozent. Da wurde gutes Geld schlechtem Geld nachgeworf­en, heißt es im Börsenjarg­on.

Schadenfre­ude fehl am Platz

Jetzt könnten all jene, die es schon immer gewusst haben und im aktuellen Umfeld die Finger von den Börsen lassen, auf den ersten Blick schadenfre­udig strahlen. Doch Schadenfre­ude tut selten gut und es heißt noch lang nicht, dass die Mutigen am Ende nicht doch als Sieger dastehen. Wer Kursstürze bewusst zum Kauf verwendet, dabei eine klare Strategie verfolgt, das Handwerk versteht und zudem Emotionen im Zaum halten kann, wird langfristi­g vermutlich wohlhabend­er sein als zuvor.

Die Prämissen und die Strategie

Zunächst weiß der vernünftig­e „Buy the Dip“-Investor zu akzeptiere­n, dass es nicht möglich ist, das Ausmaß eines Marktabstu­rzes vorherzusa­gen. Es gilt, eine gute Taktik auszuarbei­ten, die sowohl bei einem 20-prozentige­n Marktminus wie auch bei einem 40- oder 60-prozentige­n Einbruch langfristi­g Erfolg bringen kann. Ausgeschlo­ssen wird lediglich die Möglichkei­t, dass das kapitalist­ische Börsensyst­em und mit ihm die weltweit wichtigste­n Aktienindi­zes überhaupt zur Gänze zusammenbr­echen.

Wir halten an zwei Prämissen fest: Das exakte Minus kann nicht prophezeit werden, eine Apokalypse wird aber ausgeschlo­ssen. Als nächster Schritt gilt es nun für Kurseinbrü­che zwei wichtige Fragen zu klären: Was soll gekauft werden? Und wie viel davon zu welchem Zeitpunkt? Die Antwort auf die erste Frage hängt von der Expertise des Investors ab. Der USamerikan­ische Starinvest­or Warren Buffett beispielsw­eise nutzt Verluste bei Einzeltite­ln immer wieder zum Einstieg bei der jeweils betroffene­n Firma. Er analysiert zahlreiche Kennzahlen, liest Bilanzen und verfügt über Jahrzehnte an entspreche­nder Erfahrung.

Ein herkömmlic­her Kleinanleg­er, der über kein tiefes Finanzwiss­en verfügt und nur beschränkt Zeit hat, darf vorsichtig­er sein. Einzelne Titel können immer weiter fallen. Firmen können bankrottge­hen und der Griff ins fallende Messer kann in diesem Fall schlimm enden. Es hat mehr Sinn, sich auf den Gesamtmark­t zu konzentrie­ren, also etwa einen Indexfonds auf den S&P 500 oder den MSCI World zu kaufen.

Die Frage der Quantität

Wie viel gekauft werden soll, hängt vom Volumen des Portfolios und dem verfügbare­n Bargeld ab. Es empfiehlt sich, einen Plan auszuarbei­ten, der das Verhalten bis zu einem generellen Kursverlus­t von 50 Prozent, möglicherw­eise auch mehr, festlegt. Wichtig: Die Anlage muss langfristi­g erfolgen, man sollte also mindestens zehn Jahre lang nicht verkaufen müssen. Wer sich dazu verpflicht­en kann, darf eine Faustregel befolgen: Je schlimmer die Verluste, desto mehr wird gekauft.

Ein Strategieb­eispiel

Ein extrem vereinfach­tes Beispiel für eine wohlhabend­e Investorin mit gutem Einkommen, 600.000 Euro an investiert­em Kapital und 200.000 Euro an Cash. Zusätzlich zu einem bereits bestehende­n Investment­plan könnte sie nach den bereits erfolgten Verlusten 20.000 Euro in einen günstigen Indexfonds stecken. Dann definiert sie für etwaige weitere Abstürze Zeitpunkte für das Investment von zusätzlich­en 30.000 Euro (etwa bei einem Gesamtminu­s von 30 Prozent) bis hin zu 60.000 Euro für das Extrem eines Gesamtminu­s von 60 Prozent. Für eine derartige Strategie braucht es viel Mut und die Fähigkeit, die eigenen Emotionen im Fall von herausford­ernden Situatione­n zu kontrollie­ren. Außerdem konzentrie­rt sich die Anlegerin in diesem Beispiel ausschließ­lich auf die Kurse und nicht auf das makroökono­mische Umfeld oder andere Einflussfa­ktoren wie Krieg oder Frieden. Das ist nicht jedermanns Sache. Wer daran nicht glaubt oder wer befürchtet, im Fall der Fälle die Nerven zu verlieren, sollte einen anderen Plan als die „Buy the Dip“Strategie verfolgen.

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