„Ich gehöre geschützt? Was fällt denen ein!“
Die Schweizer Psychotherapeutin Jeanette Fischer über Corona, den Opfer-Schuld-Diskurs und das Verliebtsein, das „Gott sei Dank“rasch vergeht.
Die Presse: Seit zweieinhalb Jahren ist „Coronazeit“. Begonnen hat es mit der Angst. Sie wurde von Politik und Medien zumindest nicht gedämpft. Aber ist das schlecht? Bei Menschen ist der Instinkt verkümmert, wir müssen daran erinnert werden, dass wir uns schützen müssen . . . Jeanette Fischer: Nennen wir das, was wir wirklich brauchen, lieber Furcht. Sie lässt uns denk- und handelsmächtig bleiben: Wir können schreien, davonrennen, Medikamente erfinden. Anders die Angst. Sie ist eine Form der Ohnmacht: Wir werden unserer Kräfte beraubt, sind wie gelähmt. Jemanden in Angst versetzen ist deshalb ein Gewaltakt, eine Ausübung von Macht. Ich will das Virus nicht verharmlosen. Aber bei den Maßnahmen bin ich gleich skeptisch geworden. Bevor man sie setzt, braucht es eine Auseinandersetzung zwischen den Disziplinen. Sie dürfen nicht schädigen.
Worin liegt für Sie der Schaden?
In solchen Situationen muss man die Abwehr stärken. Angst aber schwächt. Wie auch die Isolation: Wir sind soziale Wesen, brauchen den anderen, auch physisch, müssen ihn spüren, nicht nur in Liebesbeziehungen. Ein paar Tage lang können wir darauf verzichten, aber nicht länger. Wir Psychiater können auch nur in Ausnahmefällen eine Psychoanalyse auf Zoom machen, nicht dauerhaft.
Dem Virus wurde der „Krieg“erklärt. Das suggeriert: Wir sind alle geeint gegen den gemeinsamen Feind. Klingt doch gut . . .
Das Virus vernichten – dazu gehört, den Menschen als Überträger zu stigmatisieren. Dabei hat sich gezeigt: Man kann ein Virus
Angst und Hass.
nicht unter Kontrolle bringen, indem man die Menschen unter Kontrolle bringt. Das ist so, wie wenn wir den Ozean ausschütten, um des Weißen Hais Herr zu werden.
Wenn ich 70 Jahre alt bin, möchte ich nicht, dass mir ein Junger ins Gesicht hustet und so mein Leben verkürzt. Also hat man Lockdowns verhängt und moralischen Druck aufgebaut. War das falsch?
Ja, weil es ein Opfer-Schuld-Diskurs ist. Die Lebensenergie der Jungen wird in einen Zusammenhang mit Mord gestellt. Alle Kontakte kriegen etwas „Mörderisches“, deshalb pflegt man sie nicht mehr. Nähe gilt als bedrohlich. Das ist hoch gefährlich, gerade weil es als heilsbringend dargestellt wird.
Fast alle Staaten haben ähnliche Maßnahmen gesetzt. Haben sich denn alle geirrt?
Es war ein Dominoeffekt. Unser Schweizer Gesundheitsminister hat damals gesagt: „Wir schließen die Schulen, weil das die anderen auch machen.“Es ging nur darum, Schuldzuweisungen zu entgehen, im Gleichklang mit den anderen. Das hat mich an eine Umfrage unter Ärzten erinnert: „Was ist das Wichtigste in Ihrem Beruf?“Im Ranking der Antworten stand erst an vierter Stelle „das Wohl des Patienten“. Am häufigsten kam: „sich von Vorwürfen freihalten“.
Was wäre für Sie der richtige Weg?
Der Weg der Freiheit: wenn sich niemand zum Opfer macht. Wenn ich für mich selbst
Verantwortung übernehme und auch den anderen als eigenverantwortlich anerkenne. Ich bin selbst fast 70 Jahre alt, zähle zur „vulnerablen“Bevölkerung, die da geschützt gehöre. Und ich habe mir gedacht: Was fällt denen ein? Ich kann doch für mich selber denken und handeln! Wenn ich Husten habe, gehe ich nicht raus, und wenn ich eine Ansteckung fürchte, gehe ich zu einer Zeit ins Geschäft, wenn dort wenige Menschen sind. Aber ich mache nie jemanden anderen für mein Wohl verantwortlich.
Wie geht es weiter, mit der Herbstwelle?
Wir haben nichts gelernt. Wir sind in einem ängstlichen Vorbereitungsmodus, die Angst wird wieder geschürt, und dann sind wir noch wackliger als am Anfang.
Statt zur beschworenen großen Einigkeit kam es zu Spaltung und Hass. Warum?
Es ist kein neuer Hass, sondern der bestehende wurde manifest. Es gab plötzlich Hass-Subjekte, die global legitimiert wurden: Wer gegen Maßnahmen ist, ist mörderisch. Da kann man seinen Hass ausleben und gleichzeitig sagen: Wir sind die Guten.
Und die Maßnahmen-Kritiker?
Die haben zwar zu Recht gesagt: Wir sind doch keine Mörder. Aber es war falsch, dass sie sich hinter einem Narrativ verschanzt haben: Die anderen haben in allem Unrecht, sind nur blöd. So hat sich die Aggressivität auf beiden Seiten hochgeschaukelt.
Wie entkommt man diesem Hass?
Indem wir uns nicht auf ihn einlassen! Wir können Auseinandersetzungen auch mit leidenschaftlicher Wut führen – einer Energie, die nicht spaltet, sondern nur eine Differenz markiert.
Ist Wut nicht schlecht für Beziehungen?
Das einzig Verbindende zwischen Menschen ist nicht Liebe oder Toleranz, sondern die Anerkennung der Differenz – dass der andere anders ist als ich. In der Symbiose, in der scheinbaren Geborgenheit, geht immer auch ein Stück Eigenständigkeit und Kraft verloren. Die ultimative Symbiose ist der Orgasmus, der dauert aus gutem Grund nur einen Moment. Auch das schöne Verliebtsein hört bald auf, Gott sei Dank, und dann beginnt die Arbeit an der Beziehung.
Das klingt schrecklich. Ich will doch nicht arbeiten, sondern mit jemandem anderem glücklich sein . . .
Wenn ich mich laufend neu auf den anderen einstelle, ist das eine kreative Leistung. Sie hält mich wach, neugierig. Ich kann dem anderen unbeschwerter begegnen, auch widerständiger. Das ist eine viel angenehmere Arbeit, als wenn ich meinen Willen ständig unterdrücke, zensuriere, einem Gleichklang opfere. Es ist befreiend, stärkt das Selbstvertrauen – und es weckt erst das Begehren.
ZUR PERSON
Jeanette Fischer