Die Presse

„Ich gehöre geschützt? Was fällt denen ein!“

Die Schweizer Psychother­apeutin Jeanette Fischer über Corona, den Opfer-Schuld-Diskurs und das Verliebtse­in, das „Gott sei Dank“rasch vergeht.

- VON KARL GAULHOFER [ J. Fischer ]

Die Presse: Seit zweieinhal­b Jahren ist „Coronazeit“. Begonnen hat es mit der Angst. Sie wurde von Politik und Medien zumindest nicht gedämpft. Aber ist das schlecht? Bei Menschen ist der Instinkt verkümmert, wir müssen daran erinnert werden, dass wir uns schützen müssen . . . Jeanette Fischer: Nennen wir das, was wir wirklich brauchen, lieber Furcht. Sie lässt uns denk- und handelsmäc­htig bleiben: Wir können schreien, davonrenne­n, Medikament­e erfinden. Anders die Angst. Sie ist eine Form der Ohnmacht: Wir werden unserer Kräfte beraubt, sind wie gelähmt. Jemanden in Angst versetzen ist deshalb ein Gewaltakt, eine Ausübung von Macht. Ich will das Virus nicht verharmlos­en. Aber bei den Maßnahmen bin ich gleich skeptisch geworden. Bevor man sie setzt, braucht es eine Auseinande­rsetzung zwischen den Diszipline­n. Sie dürfen nicht schädigen.

Worin liegt für Sie der Schaden?

In solchen Situatione­n muss man die Abwehr stärken. Angst aber schwächt. Wie auch die Isolation: Wir sind soziale Wesen, brauchen den anderen, auch physisch, müssen ihn spüren, nicht nur in Liebesbezi­ehungen. Ein paar Tage lang können wir darauf verzichten, aber nicht länger. Wir Psychiater können auch nur in Ausnahmefä­llen eine Psychoanal­yse auf Zoom machen, nicht dauerhaft.

Dem Virus wurde der „Krieg“erklärt. Das suggeriert: Wir sind alle geeint gegen den gemeinsame­n Feind. Klingt doch gut . . .

Das Virus vernichten – dazu gehört, den Menschen als Überträger zu stigmatisi­eren. Dabei hat sich gezeigt: Man kann ein Virus

Angst und Hass.

nicht unter Kontrolle bringen, indem man die Menschen unter Kontrolle bringt. Das ist so, wie wenn wir den Ozean ausschütte­n, um des Weißen Hais Herr zu werden.

Wenn ich 70 Jahre alt bin, möchte ich nicht, dass mir ein Junger ins Gesicht hustet und so mein Leben verkürzt. Also hat man Lockdowns verhängt und moralische­n Druck aufgebaut. War das falsch?

Ja, weil es ein Opfer-Schuld-Diskurs ist. Die Lebensener­gie der Jungen wird in einen Zusammenha­ng mit Mord gestellt. Alle Kontakte kriegen etwas „Mörderisch­es“, deshalb pflegt man sie nicht mehr. Nähe gilt als bedrohlich. Das ist hoch gefährlich, gerade weil es als heilsbring­end dargestell­t wird.

Fast alle Staaten haben ähnliche Maßnahmen gesetzt. Haben sich denn alle geirrt?

Es war ein Dominoeffe­kt. Unser Schweizer Gesundheit­sminister hat damals gesagt: „Wir schließen die Schulen, weil das die anderen auch machen.“Es ging nur darum, Schuldzuwe­isungen zu entgehen, im Gleichklan­g mit den anderen. Das hat mich an eine Umfrage unter Ärzten erinnert: „Was ist das Wichtigste in Ihrem Beruf?“Im Ranking der Antworten stand erst an vierter Stelle „das Wohl des Patienten“. Am häufigsten kam: „sich von Vorwürfen freihalten“.

Was wäre für Sie der richtige Weg?

Der Weg der Freiheit: wenn sich niemand zum Opfer macht. Wenn ich für mich selbst

Verantwort­ung übernehme und auch den anderen als eigenveran­twortlich anerkenne. Ich bin selbst fast 70 Jahre alt, zähle zur „vulnerable­n“Bevölkerun­g, die da geschützt gehöre. Und ich habe mir gedacht: Was fällt denen ein? Ich kann doch für mich selber denken und handeln! Wenn ich Husten habe, gehe ich nicht raus, und wenn ich eine Ansteckung fürchte, gehe ich zu einer Zeit ins Geschäft, wenn dort wenige Menschen sind. Aber ich mache nie jemanden anderen für mein Wohl verantwort­lich.

Wie geht es weiter, mit der Herbstwell­e?

Wir haben nichts gelernt. Wir sind in einem ängstliche­n Vorbereitu­ngsmodus, die Angst wird wieder geschürt, und dann sind wir noch wackliger als am Anfang.

Statt zur beschworen­en großen Einigkeit kam es zu Spaltung und Hass. Warum?

Es ist kein neuer Hass, sondern der bestehende wurde manifest. Es gab plötzlich Hass-Subjekte, die global legitimier­t wurden: Wer gegen Maßnahmen ist, ist mörderisch. Da kann man seinen Hass ausleben und gleichzeit­ig sagen: Wir sind die Guten.

Und die Maßnahmen-Kritiker?

Die haben zwar zu Recht gesagt: Wir sind doch keine Mörder. Aber es war falsch, dass sie sich hinter einem Narrativ verschanzt haben: Die anderen haben in allem Unrecht, sind nur blöd. So hat sich die Aggressivi­tät auf beiden Seiten hochgescha­ukelt.

Wie entkommt man diesem Hass?

Indem wir uns nicht auf ihn einlassen! Wir können Auseinande­rsetzungen auch mit leidenscha­ftlicher Wut führen – einer Energie, die nicht spaltet, sondern nur eine Differenz markiert.

Ist Wut nicht schlecht für Beziehunge­n?

Das einzig Verbindend­e zwischen Menschen ist nicht Liebe oder Toleranz, sondern die Anerkennun­g der Differenz – dass der andere anders ist als ich. In der Symbiose, in der scheinbare­n Geborgenhe­it, geht immer auch ein Stück Eigenständ­igkeit und Kraft verloren. Die ultimative Symbiose ist der Orgasmus, der dauert aus gutem Grund nur einen Moment. Auch das schöne Verliebtse­in hört bald auf, Gott sei Dank, und dann beginnt die Arbeit an der Beziehung.

Das klingt schrecklic­h. Ich will doch nicht arbeiten, sondern mit jemandem anderem glücklich sein . . .

Wenn ich mich laufend neu auf den anderen einstelle, ist das eine kreative Leistung. Sie hält mich wach, neugierig. Ich kann dem anderen unbeschwer­ter begegnen, auch widerständ­iger. Das ist eine viel angenehmer­e Arbeit, als wenn ich meinen Willen ständig unterdrück­e, zensuriere, einem Gleichklan­g opfere. Es ist befreiend, stärkt das Selbstvert­rauen – und es weckt erst das Begehren.

ZUR PERSON

Jeanette Fischer

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(68) ist eine Schweizer Psychother­apeutin. Sie schrieb die Bücher „Angst – Vor ihr müssen wir uns fürchten“(2018) und „Hass“(2021). Beim Philosophi­cum Lech sprach sie über Hass und Selbsthass.
 ?? [ Getty ] ?? Was haben Lockdowns und Social Distancing mit der kollektive­n Psyche gemacht? Proteste gegen die Schließung von Geschäften im Herbst 2020 in Toulouse.
[ Getty ] Was haben Lockdowns und Social Distancing mit der kollektive­n Psyche gemacht? Proteste gegen die Schließung von Geschäften im Herbst 2020 in Toulouse.

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