Die Presse

Hier macht die Elite auf Prekariat

Kino. „Wie im echten Leben“mit Juliette Binoche, in der Regie des gefeierten Autors Emmanuel Carr`ere: weniger Analyse der sozialen Lage als eigener Befindlich­keiten.

- VON HOLGER HEILAND

Flexibel, teamfähig, vielleicht etwas zu perfektion­istisch – das StärkenSch­wächen-Profil zum Bewerbungs­gespräch suggeriert, es ginge bei dem Job um eine gut bezahlte Stelle mit Verantwort­ung. Doch Marianne (Juliette Binoche) kämpft um den Einstieg in den Niedrigloh­nsektor. Wie ihr ergeht es vielen im Jobcenter der nordfranzö­sischen Stadt Caen.

In dieser Hinsicht könnte die emotionale Auftaktsze­ne von „Wie im echten Leben“einem Ken-Loach-Film entstammen. Bevor Marianne bei ihrer Sachbearbe­iterin vorspreche­n kann, wird sie Zeugin des Wutausbruc­hs einer anderen Arbeitssuc­henden, Christèle (großartig: die vor Ort gecastete Hélène Lambert). Trotz anderslaut­ender Versprechu­ngen ist deren Antrag auf Unterstütz­ung nicht berücksich­tigt worden. Dadurch wird sich die sowieso schwierige Situation der Alleinerzi­ehenden absehbar weiter verschlech­tern. Wo jedoch bei Ken Loach die Solidarisi­erung der Ausgegrenz­ten einsetzt, verharrt Marianne in ihrer beobachten­den Haltung.

Das liegt daran, dass sie für ihre Anwesenhei­t ganz eigene Gründe hat. Denn im echten Leben ist sie eine erfolgreic­he Autorin aus der Pariser Kulturelit­e. Für ein neues Buch möchte sie die „Krise begreifen“und die „Unsichtbar­en sichtbar“machen. So recherchie­rt sie fern der Kapitale die Lebensumst­ände derer, die all die Tätigkeite­n verrichten, die praktisch ohne jede Wertschätz­ung das große Ganze am Laufen halten.

Gemeinsam mit der zupackende­n Kollegin Christèle landet sie schließlic­h da, wo es am härtesten ist: auf einer vor Anker liegenden Fähre, die zwischen Frankreich und England pendelt. Hier müssen in anderthalb Stunden 230 Kabinen auf Vordermann gebracht werden. Pro Kabine sind nur wenige Minuten Zeit für Kloschrubb­en, Badreinigu­ng und Bettenbezi­ehen. Das verursacht Muskelkate­r und unkontroll­ierbare Zuckungen in Armen und Schultern, die den Schlaf rauben.

Das Verstecksp­iel als Verrat

Dennoch kann Marianne sich behaupten. Sie freundet sich mit Kolleginne­n an, macht Notizen und schreibt frühmorgen­s und nachts an ihrem Buch. Doch bald wird die Freundscha­ft zu Christèle für sie immer wichtiger und verändert allmählich den Charakter ihres Berichts.

Aus dem Gruppenbil­d wird das Porträt einer besonderen Person. Dadurch verstärken sich die Zweifel am Projekt. Gegenüber Christèle erscheint Marianne das GünterWall­raff-artige Verstecksp­iel mit der erfundenen Identität zunehmend als Verrat. Mit der Richtungsä­nderung im Projekt verlagert

sich jedoch auch der Fokus des Films. Immer stärker tritt die Frage nach Aufrichtig­keit in Leben und Erzählen in sein Zentrum. Da für „Wie im echten Leben“der renommiert­e Schriftste­ller Emmanuel Carrère die Regie übernommen hat, verwundert das wenig. Schließlic­h steht die Frage nach Wahrhaftig­keit seit Jahren im Zentrum seines Schreibens. Der Film beruht aber auf einem Erfahrungs­bericht in Buchform der Journalist­in Florence Aubenas.

Was ist hier anders als etwa bei den belgischen Dardenne-Brüdern, deren Filme oft ebenfalls von gesellscha­ftlichem Ausschluss und seinen Folgen handeln? Sie gehen von der Beobachtun­g von Personen und Bedingunge­n aus. Das macht zwar anfangs auch Carrère, wenn er prekäre Arbeitsver­hältnisse und die aus ihnen resultiere­nden Härten zeigt. Aber all das tritt in seiner dritten Regiearbei­t zunehmend in den Hintergrun­d, wenn er durch die Fokussieru­ng auf die Frauenfreu­ndschaft immer mehr eigene Gemütslage­n und Skrupel miteinbrin­gt.

Sichtbar gemacht werden nun nicht mehr so sehr die ansonsten Unsichtbar­en, sondern vor allem Fragen von Autorensch­aft und Verantwort­ung. Sie zu stellen ist selbstvers­tändlich immer wieder absolut berechtigt. In diesem Fall führt es letztlich aber genau dazu, zurück auf die andere Seite der beschworen­en gesellscha­ftlichen Spaltung zu wechseln. Statt sich näher mit den Mechanisme­n von Ausbeutung und Ausgrenzun­g zu befassen, kreisen der Regisseur und seine Protagonis­tin mit einem Mal vor allem um Probleme mit dem eigenen Wohlmeinen und den guten Zwecken.

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[ Filmladen ] Zwei Welten: Die Putzfrau Christe`le (He´le`ne Lambert) und die Undercover-Autorin Marianne (Juliette Binoche).

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