Strommarkt spielt verrückt: Zufall oder System?
Gastkommentar. Viele Ökonomen sind offenbar dazu bereit, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit auf dem Altar der Marktgläubigkeit zu opfern.
Kann es ein Zufall sein, wenn renommierte Ökonominnen und Ökonomen immer wieder das Wort „Zufallsgewinne“in den Mund nehmen, wenn es um Argumente gegen deren Besteuerung geht? Wenn sie sich auf Kräfte des Marktes berufen, wenn sie das fatale Verfahren der Strompreisbildung gemäß dem Merit-OrderPrinzip verteidigen? Vermutlich nicht, insbesondere wenn man bedenkt, dass sie eigentlich wissen müssten, dass die exorbitanten Gewinne von Energie-Erzeugern weder zufällig zustande kommen noch vom Markt festgesetzt werden.
Keine wirksamen Anreize
Es stimmt zwar, dass der Krieg in der Ukraine und der Versuch Russlands, durch eine schon lang vorbereitete Verknappung der Lieferung von Erdgas Europa zu spalten und die Sanktionen gegen Russland und die Unterstützung der Ukraine zu beenden, der entscheidende Faktor für die immensen Steigerungen der Gaspreise ist. Dass die Kosten für Gas den für Strom zu bezahlenden Preis festlegen, hat aber absolut nichts mit Zufall zu tun. Es haben nicht alle Erzeuger von Strom mit erneuerbaren Ressourcen oder mit Kernenergie gleichzeitig im Lotto gewonnen. Die Übergewinne sind einer Regulierung geschuldet, nach der der Strompreis vom teuersten Erzeuger, in der Regel von Betreibern von Gaskraftwerken, bestimmt wird. Selbst unter normalen Bedingungen fehlt die Evidenz, dass dieser Eingriff in den Markt wirksame Anreize geboten hätte, verstärkt in die Nutzung erneuerbarer und damit langfristig kostengünstiger Ressourcen zu investieren.
In der gegenwärtigen Situation bestehen für gewinnmaximierende Kraftwerksbetreiber, die auf Sonnenenergie, Wind oder Wasser setzen, überhaupt keine Anreize, ihre Kapazitäten auszubauen. Im Gegenteil, wenn ihre Produktion- und Speicherkapazitäten ausreichend wären, um Gaskraftwerke überflüssig zu machen, würden ihre Einnahmen schlagartig einbrechen.
Einfältige Modelle
In jüngster Zeit sind als Begründung für das Merit-Order-Prinzip immer wieder Beispiele genannt worden, wonach in freien Märkten der teuerste Anbieter den Preis bestimmen würde. Wenn etwa ein Erzeuger Kosten von einem Euro pro Kilo Kartoffeln hätte, der zweite Erzeuger aber von zwei Euro, dann würde der Preis für Kartoffeln, falls die nachgefragte Menge das Angebot des ersten Erzeugers übersteigt, automatisch zwei Euro betragen. Dies ist ein haarsträubendes Beispiel für die Tendenz von Ökonomen, auf Basis von vereinfachten, oftmals einfältigen Modellen Aussagen für die Realität ableiten zu wollen.
Beim Energiemarkt handelt es sich nicht um ein Duopol, bei dem zwei Anbieter den Preis bestimmen können. Ebenso wenig ist Strom ein homogenes Gut. Natürlich
ist es teurer, Energie schnell auf Bedarf bereitzustellen, zum Beispiel durch Gas- oder Pumpspeicherkraftwerke, als Flusskraftwerke zu betreiben oder Strom nur bei Sonnenschein oder Wind anbieten zu können. Jeder Einkauf in einem Supermarkt demonstriert, dass Kartoffeln unterschiedlicher Qualität mehr oder weniger wert sind und dass deren Preis nicht vom teuersten Anbieter bestimmt wird.
Beim derzeitigen Modell der Festlegung von Strompreisen handelt es sich offensichtlich um einen gescheiterten Ansatz. Die Liberalisierung der Strommärkte mag zwar temporär die ehemaligen Monopolrenditen und damit auch die Preise für Konsumenten reduziert haben, sie ist aber sowohl beim Bestreben, dem Klimawandel durch die Nutzung erneuerbarer Energiequellen entgegenzuwirken als auch bezüglich der Krisenfestigkeit gescheitert. Es hat sich wieder einmal erwiesen, dass neoliberale Konzepte und das Bestreben, kurzfristig Gewinne zu maximieren und Kosten zu minimieren, nicht krisenfest sind. Im Gegenteil, sie bedrohen sowohl die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie als auch den sozialen und politischen Zusammenhalt in der Europäischen Union, da weder die Wirtschaft noch die Bevölkerung fähig sind, die künstlich hoch gehaltenen Stromtarife zu tragen.
„Übergewinnsteuern“
Grundsätzlich ist die Skepsis gegenüber einer Einführung von temporären „Übergewinnsteuern“berechtigt, da sie keinen Beitrag dazu leisten, die Ursachen für abnormale Übergewinne zu beseitigen. Unter den gegebenen Bedingungen sind sie aber sicher ein kurzfristig geeignetes und auch notwendiges Mittel, um die Maßnahmen zur Abfederung der katastrophalen Auswirkungen auf einen großen Teil der Bevölkerung zu finanzieren. Eine oft genannte Begründung dafür, eine Sonderdividende anstelle einer Übergewinnsteuer einzuführen, nämlich Standortnachteile für Österreich, grenzt aber wieder ans Absurde.
Im konkreten Fall Stromproduktion ist unverständlich, wie befürchtet
DER AUTOR
Johann Cˇ as (geb. 1957) studierte Volkswirtschaft an der Universität Graz und arbeitet als Ökonom und Technikforscher in Wien. Er hat bereits zu zahlreichen unterschiedlichen Themen publiziert, im Mittelpunkt seines Forschungsinteresses stehen die gesellschaftlichen Folgen digitaler Technologien. werden kann, dass so eine temporäre Steuer einen Standortnachteil erzeugen sollte. Fotovoltaikanlagen oder Windkraftwerke werden nicht aufgrund einer zeitweise höheren Besteuerung abwandern, Wasserkraftwerke können nicht in Steuerparadiese transferiert werden.
In zunehmend unsicheren Zeiten gilt es, für so kritische Infrastrukturen wie die Energieversorgung Modelle zu finden, welche Effizienz versprechen, ohne die Versorgungssicherheit aufs Spiel zu setzen; welche starke Anreize zum Ausstieg aus fossilen Energiequellen bieten, ohne den sozialen Frieden zu gefährden. Wenn es darum geht, das Problem an der Wurzel zu packen, sind nicht Unsicherheiten über den zukünftigen Steuersatz auszuräumen, sondern Vorkehrungen für eine zuverlässige Versorgung mit nachhaltiger Energie zu leistbaren und kostenbasierten Preisen zu treffen. Natürlich müssen dabei die tatsächlichen Kosten der Energieerzeugung gedeckt sein und Anreize geboten werden, in erneuerbare Energien und deren Speicherung massiv zu investieren.
Argumente, dass mit dem Merit-Order-Prinzip der Weisheit letzter Schluss gefunden worden wäre, sind verantwortungslos und peinlich für die Ökonominnen und Ökonomen, die diesen Mechanismus der Preisfindung verteidigen. Er ist unverkennbar missglückt, und wenn nicht sehr schnell davon abgegangen wird, drohen mit einer durch hohe Strompreise mitverursachten Rezession soziale Katastrophen und politische Instabilität.
Blick in die USA und Schweiz
Einen Preis zu berechnen, der die Gesamtkosten widerspiegelt, und einen Mechanismus zu finden, der die Einnahmen an die Produzenten kostengerecht verteilt, ist, wenngleich sehr komplex, keine Hexerei. Ein Blick in die Schweiz oder die USA zeigt, dass dies möglich ist. Falls dies im Modell der liberalisierten Strommärkte in Europa nicht realisierbar ist, dann ist es höchste Zeit, die Liberalisierung zurückzufahren und regulierend einzugreifen.
Momentan befinden wir uns in der absurden Situation, dass Mainstream-Ökonomen eine spezifische Regel mit theoretischen marktwirtschaftlichen Argumenten verteidigen und dabei sehenden Auges die Gesellschaft und die Wirtschaft in ärgste Nöte bringen und offensichtlich dazu bereit sind, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit auf dem Altar der Marktgläubigkeit zu opfern. Verantwortungsbewusstsein sieht anders aus.