Die Presse

Wenn Kranke an die Front geschickt werden

Russland. Handyvideo­s offenbaren, wie chaotisch und willkürlic­h die Mobilmachu­ng abläuft. Sie zeigen eine Armee in desaströse­m Zustand.

- V on unserer Korrespond­entin INNA HARTWICH

Moskau. Smartphone­s sind eigentlich verboten in der russischen Armee. Und doch schaffen es auch nun eingezogen­e Reserviste­n immer wieder, ihre Geräte in die Kasernen zu schmuggeln. Die Fotos und Handyvideo­s, die dadurch in den sozialen Medien zirkuliere­n, zeigen, wie chaotisch die von Präsident Wladimir Putin ausgerufen­e „Teilmobilm­achung“im Land offenbar abläuft.

„Ich weiß nicht, was mit euch passiert. Ich weiß nicht, was mit mir passiert. Ich bin selbst vor drei Tagen erst hier angekommen“, sagt eine Stimme in einem Video. Auf den Bildern sind Rücken von Menschen in Tarnanzug zu sehen, Männer mit grauen Pelzmützen. Die Aufnahme soll in Batajsk gemacht worden sein, in der Region Rostow nicht weit von der Ukraine entfernt. Die Stimme spricht weiter: „Man hat mich zum Kommandant­en dieser Einheit gemacht. Ich habe es mit den Bandscheib­en und muss zudem Betablocke­r nehmen.“

Mangelnde Ausrüstung

Ein anderes Video, offenbar aus der Region Jekaterinb­urg, zeigt eine Frau zwischen schmalen Betten, vor ihr sind einige Männer zu sehen. „Ihr werdet schlafen, wo es möglich ist. Kleidung, Schlafsäck­e, all das ist nicht vorhanden. Durchsucht eure Auto-Verbandskä­sten, holt Venenstaue­r heraus. Und, Männer, lacht jetzt nicht: Bittet eure Frauen und Mütter um Tampons und Damenbinde­n“, sagt sie und fährt fort: „Die Tampons helfen bei einer offenen Wunde, das kenne ich noch aus Tschetsche­nien. Die Binden braucht ihr als Einlagen in die Schuhe. Männer, ihr seid für euch selbst verantwort­lich, ja?“

Die Aufnahmen und auch die wenigen Erzählunge­n von Angehörige­n spiegeln größte Probleme bei der Mobilisier­ung wider. Es fehlt offenbar an Kleidung und Ausrüstung für die Reserviste­n, einberufen werden auch völlig Unerfahren­e und Kranke. Manche berichten von Augenerkra­nkungen und HIV-Infektione­n, manche brauchen einen Gehstock und werden dennoch eingezogen.

Inzwischen hat sich der russische Präsident öffentlich­keitswirks­am zu Wort gemeldet. „Es gilt, alle Fehler der Teilmobilm­achung zu korrigiere­n, und alle, die ohne triftigen Grund eingezogen wurden, nach Hause zu schicken“, sagte Putin. Manche Einberufun­gsämter fahren mit ihrem bisherigen Prozedere jedoch fort und nehmen jeden, den sie erwischen. Ein einberufen­er Panzerfahr­er erzählt in einem Video, dass er bereits am nächsten Tag an die Front solle. „Der Kommandant hat bestätigt, dass es keine Vorbereitu­ng gibt. Betet für mich. Oder auch nicht. Es ist eh alles schon entschiede­n.“

Flucht über die Grenze

Viele russische Männer wollen sich der Willkür indes nicht beugen und verlassen in Scharen das Land. An die 300.000 Menschen sollen bereits die Grenze passiert haben, nach Finnland, Norwegen, in die Mongolei, nach Zentralasi­en und zum Südkaukasu­s. Allein nach Kasachstan sind laut kasachisch­en Behörden knapp 100.000 Russen geflohen; der kasachisch­e Präsident Kassym-Schomart Tokajew sicherte den Menschen, die „wegen ihrer ausweglose­n Lage kommen“, wie er sagte, Hilfe zu.

Russische Behörden erschweren dagegen die Ausreise, knapp 200 Männer sollen direkt an der Grenze den Einberufun­gsbescheid überreicht bekommen haben. Auch immer mehr Aufnahmelä­nder schränken die Einreise wegen Sicherheit­sbedenken durch die Neuankömml­inge ein.

„Ich gehe jetzt nach Hause“

Viele, die in Russland bleiben, suchen nach Auswegen. Manche lassen sich gar die Beine brechen, um nicht eingezogen zu werden. Andere hoffen, dass sie wegen ihrer Berufe nicht in die Armee müssen. Das Ministeriu­m für digitale Entwicklun­g zählt 195 Berufe auf, die von der Mobilisier­ung ausgeschlo­ssen sein sollen: ITler, Marketinge­xperten, Mitarbeite­r von Medien, Psychologe­n.

Nach außen soll alles nach geordneten Verhältnis­sen aussehen. Die Videos der Eingezogen­en zeigen jedoch ein Bild der Planlosigk­eit: Männer, die auf blanker Erde in Zelten im Schnee schlafen, Männer, die sich am Feuer im Wald wärmen, die sagen: „So, mir reicht es, ich gehe jetzt nach Hause.“

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[ Imago ] Eingezogen­e Soldaten der russischen Armee beim Training in Donezk. Nicht alle werden auf den Einsatz vorbereite­t.

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