Die Presse

„Gewissensb­eruhigung ist nicht christlich-sozial“

Christian Stocker, der neue Generalsek­retär der ÖVP, über Konfliktli­nien mit den Grünen, seinen Vater als Vorbild, das „Spannungsf­eld“im Asylbereic­h und darüber, was man integratio­nspolitisc­h von Wiener Neustadt lernen kann.

- VON OLIVER PINK

Die Presse: Zuletzt war das Generalsek­retariat der ÖVP eher mit jungen, hungrigen Nachwuchsh­offnungen besetzt gewesen – Gernot Blümel, Stefan Steiner, Elisabeth Köstinger, Axel Melchior, ja sogar Karl Nehammer könnte man dazuzählen, wenn man will. Nun sitzt hier ein 62-jähriger Rechtsanwa­lt. Wie kam es dazu, und welchen Schluss lässt das zu?

Christian Stocker: Ich glaube nicht, dass das Alter ein entscheide­ndes Kriterium ist. Der Bundespart­eiobmann hat mich gefragt. Und mir vermittelt, dass er mir vertraut.

Woher rührt dieses Vertrauen?

Wir kennen uns schon länger. In ganz unterschie­dlichen Funktionen. Ich bin seit langer Zeit Kommunalpo­litiker, und der jetzige Bundeskanz­ler war eine Zeit lang für Kommunalpo­litik in Niederöste­rreich zuständig.

Jetzt kommt die Standardfr­age: Sind Sie ein Türkiser oder ein Schwarzer?

Ich bin Generalsek­retär der Volksparte­i. In meinem Parteiherz­en haben Schwarz und Türkis problemlos Platz.

Wie sehen Sie denn die Zeit von Sebastian Kurz als ÖVP-Chef?

Das war für die ÖVP eine erfolgreic­he Zeit. Wir haben Wahlen und Vertrauen gewonnen. Dass wir es jetzt schwierige­r haben, das ist so. Aber ich möchte diese Zeit in keinster Weise schlechtre­den.

Für Ihre Vorgängeri­n Laura Sachslehne­r war der Klimabonus für Asylwerber eine rote Linie, die die Grünen überschrit­ten hätten. Könnte sich der Umgang von Ministerin Leonore Gewessler mit dem Lobau-Tunnel nun auch zu einer roten Linie in der Koalition entwickeln?

Das sehe ich nicht so. Es gibt bei beiden Themen aufrechte Beschlüsse des Gesetzgebe­rs. Und wir halten uns in beiden Fällen daran.

Ein anderes Streitthem­a ist die Flächenwid­mung, der grüne Minister Johannes Rauch will das den Gemeinden entziehen. Wie sehen Sie das?

Das fragen Sie mich als Kommunalpo­litiker?

Ja.

Die Flächenwid­mung ist dort, wo sie ist, gut aufgehoben. Die Bürgermeis­ter kennen ihre Gemeinden, die Probleme, die Begehrlich­keiten, die mit einer Flächenwid­mung oft verbunden sind. Und die Länder schauen ja auch noch einmal drauf.

Wie können Sie eigentlich mit den Grünen? Sie sitzen im U-Ausschuss. Da merkt man nichts davon, dass es eine Koalition gibt.

Leider. Das liegt aber nicht an uns. Trotzdem muss man sagen: Auf Regierungs­ebene funktionie­rt diese Zusammenar­beit. Besser, als uns das viele vorhergesa­gt haben.

Wen werden Sie bei der Bundespräs­identenwah­l wählen?

Die Partei gibt keine Wahlempfeh­lung ab. Und ich werde meine Entscheidu­ng für mich treffen.

Haben Sie ein politische­s Vorbild?

Ja. Meinen Vater. Es war zehn Jahre lang Nationalra­tsabgeordn­eter. Er hat mich für die Politik interessie­rt und mir mitgegeben, immer beide Seiten der Medaille zu sehen. Er hat mir aber nie nahegelegt, selbst Politiker zu werden. Mein Vater war nicht der typische ÖVP-Funktionär. Nicht nur, weil er am 1. Mai geboren wurde. Er war Gewerkscha­fter und Personalve­rtreter. Politisch also fest in der Arbeitnehm­ervertretu­ng verankert.

Das heißt, Sie sind auch ein Christlich-Sozialer?

Natürlich.

Hat das jetzt unter Karl Nehammer wieder mehr Bedeutung in der ÖVP?

Ich glaube nicht, dass das jemals verloren gegangen ist. Da ist vieles vielleicht auch bewusst missversta­nden worden. Ich sehe die großen Bruchlinie­n nicht. Vor allem, wenn man sich ansieht, was uns im Bereich der Flüchtling­e alles vorgeworfe­n wurde. Ich halte das in einem überwiegen­den Teil für unberechti­gt. Das ist auch mein ganz persönlich­er Zugang: Schicksale berühren einen, es lässt mich nicht kalt, wenn ich manche Bilder sehe. Aber die Frage ist, mit welcher Entscheidu­ng verbessere ich die Situation für die betroffene­n Menschen wirklich. Und wo beruhige ich nur mein Gewissen. Dort, wo es nur um die Gewissensb­eruhigung geht, ist man auch nicht christlich-sozial. Auch wenn es oft schwer vermittelb­ar ist, dass man Entscheidu­ngen trifft, obwohl manche Bilder herzzerrei­ßend sind. Das Spannungsf­eld, unter dem auch ich leide, ist: dass man individuel­l nicht helfen kann, weil man es vielleicht einmal verbessert, aber vielfach verschlimm­ert.

Sie sind Vizebürger­meister von Wiener Neustadt, einer Stadt mit einem relativ hohen Anteil von Menschen mit Migrations­hintergrun­d. Wie funktionie­rt das in der Integratio­n dort, und was lernt man daraus?

Ich war zehn Jahre Bildungsst­adtrat und habe Schulen erlebt, in denen in einer Klasse kein einziges deutschspr­achiges Kind war. Ich sehe einen überwiegen­den Teil der Migranten, die sich sehr gut integriert haben. Es gibt allerdings auch einen Teil, bei dem es nicht funktionie­rt, bei dem sich wirklich Parallelge­sellschaft­en entwickelt haben. Das aufzulösen ist ganz schwer. Das geht nur über Vertrauens­bildung.

Betrifft das bestimmte Volksgrupp­en?

Ich will da jetzt keine Volksgrupp­e nennen, die sich besonders betroffen fühlen muss. Aus meiner Sicht ist es notwendig, ein Angebot auf Augenhöhe zu geben: Die Möglichkei­t, sich in diese Gesellscha­ft einzubring­en, in den Vereinen, in den Institutio­nen. Und wo das Angebot nicht angenommen wird, darüber nachzudenk­en, wie man damit umgeht. Aber das muss auf Augenhöhe passieren.

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[ Caio Kauffmann ] „Dass wir es jetzt schwierige­r haben, das ist so“: Christian Stocker.

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