„Gewissensberuhigung ist nicht christlich-sozial“
Christian Stocker, der neue Generalsekretär der ÖVP, über Konfliktlinien mit den Grünen, seinen Vater als Vorbild, das „Spannungsfeld“im Asylbereich und darüber, was man integrationspolitisch von Wiener Neustadt lernen kann.
Die Presse: Zuletzt war das Generalsekretariat der ÖVP eher mit jungen, hungrigen Nachwuchshoffnungen besetzt gewesen – Gernot Blümel, Stefan Steiner, Elisabeth Köstinger, Axel Melchior, ja sogar Karl Nehammer könnte man dazuzählen, wenn man will. Nun sitzt hier ein 62-jähriger Rechtsanwalt. Wie kam es dazu, und welchen Schluss lässt das zu?
Christian Stocker: Ich glaube nicht, dass das Alter ein entscheidendes Kriterium ist. Der Bundesparteiobmann hat mich gefragt. Und mir vermittelt, dass er mir vertraut.
Woher rührt dieses Vertrauen?
Wir kennen uns schon länger. In ganz unterschiedlichen Funktionen. Ich bin seit langer Zeit Kommunalpolitiker, und der jetzige Bundeskanzler war eine Zeit lang für Kommunalpolitik in Niederösterreich zuständig.
Jetzt kommt die Standardfrage: Sind Sie ein Türkiser oder ein Schwarzer?
Ich bin Generalsekretär der Volkspartei. In meinem Parteiherzen haben Schwarz und Türkis problemlos Platz.
Wie sehen Sie denn die Zeit von Sebastian Kurz als ÖVP-Chef?
Das war für die ÖVP eine erfolgreiche Zeit. Wir haben Wahlen und Vertrauen gewonnen. Dass wir es jetzt schwieriger haben, das ist so. Aber ich möchte diese Zeit in keinster Weise schlechtreden.
Für Ihre Vorgängerin Laura Sachslehner war der Klimabonus für Asylwerber eine rote Linie, die die Grünen überschritten hätten. Könnte sich der Umgang von Ministerin Leonore Gewessler mit dem Lobau-Tunnel nun auch zu einer roten Linie in der Koalition entwickeln?
Das sehe ich nicht so. Es gibt bei beiden Themen aufrechte Beschlüsse des Gesetzgebers. Und wir halten uns in beiden Fällen daran.
Ein anderes Streitthema ist die Flächenwidmung, der grüne Minister Johannes Rauch will das den Gemeinden entziehen. Wie sehen Sie das?
Das fragen Sie mich als Kommunalpolitiker?
Ja.
Die Flächenwidmung ist dort, wo sie ist, gut aufgehoben. Die Bürgermeister kennen ihre Gemeinden, die Probleme, die Begehrlichkeiten, die mit einer Flächenwidmung oft verbunden sind. Und die Länder schauen ja auch noch einmal drauf.
Wie können Sie eigentlich mit den Grünen? Sie sitzen im U-Ausschuss. Da merkt man nichts davon, dass es eine Koalition gibt.
Leider. Das liegt aber nicht an uns. Trotzdem muss man sagen: Auf Regierungsebene funktioniert diese Zusammenarbeit. Besser, als uns das viele vorhergesagt haben.
Wen werden Sie bei der Bundespräsidentenwahl wählen?
Die Partei gibt keine Wahlempfehlung ab. Und ich werde meine Entscheidung für mich treffen.
Haben Sie ein politisches Vorbild?
Ja. Meinen Vater. Es war zehn Jahre lang Nationalratsabgeordneter. Er hat mich für die Politik interessiert und mir mitgegeben, immer beide Seiten der Medaille zu sehen. Er hat mir aber nie nahegelegt, selbst Politiker zu werden. Mein Vater war nicht der typische ÖVP-Funktionär. Nicht nur, weil er am 1. Mai geboren wurde. Er war Gewerkschafter und Personalvertreter. Politisch also fest in der Arbeitnehmervertretung verankert.
Das heißt, Sie sind auch ein Christlich-Sozialer?
Natürlich.
Hat das jetzt unter Karl Nehammer wieder mehr Bedeutung in der ÖVP?
Ich glaube nicht, dass das jemals verloren gegangen ist. Da ist vieles vielleicht auch bewusst missverstanden worden. Ich sehe die großen Bruchlinien nicht. Vor allem, wenn man sich ansieht, was uns im Bereich der Flüchtlinge alles vorgeworfen wurde. Ich halte das in einem überwiegenden Teil für unberechtigt. Das ist auch mein ganz persönlicher Zugang: Schicksale berühren einen, es lässt mich nicht kalt, wenn ich manche Bilder sehe. Aber die Frage ist, mit welcher Entscheidung verbessere ich die Situation für die betroffenen Menschen wirklich. Und wo beruhige ich nur mein Gewissen. Dort, wo es nur um die Gewissensberuhigung geht, ist man auch nicht christlich-sozial. Auch wenn es oft schwer vermittelbar ist, dass man Entscheidungen trifft, obwohl manche Bilder herzzerreißend sind. Das Spannungsfeld, unter dem auch ich leide, ist: dass man individuell nicht helfen kann, weil man es vielleicht einmal verbessert, aber vielfach verschlimmert.
Sie sind Vizebürgermeister von Wiener Neustadt, einer Stadt mit einem relativ hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Wie funktioniert das in der Integration dort, und was lernt man daraus?
Ich war zehn Jahre Bildungsstadtrat und habe Schulen erlebt, in denen in einer Klasse kein einziges deutschsprachiges Kind war. Ich sehe einen überwiegenden Teil der Migranten, die sich sehr gut integriert haben. Es gibt allerdings auch einen Teil, bei dem es nicht funktioniert, bei dem sich wirklich Parallelgesellschaften entwickelt haben. Das aufzulösen ist ganz schwer. Das geht nur über Vertrauensbildung.
Betrifft das bestimmte Volksgruppen?
Ich will da jetzt keine Volksgruppe nennen, die sich besonders betroffen fühlen muss. Aus meiner Sicht ist es notwendig, ein Angebot auf Augenhöhe zu geben: Die Möglichkeit, sich in diese Gesellschaft einzubringen, in den Vereinen, in den Institutionen. Und wo das Angebot nicht angenommen wird, darüber nachzudenken, wie man damit umgeht. Aber das muss auf Augenhöhe passieren.